Norm IEC 61499 Verteilt, Vereinfacht, Vernetzt: So geht herstellerunabhängige Automatisierung
Zeit für einen Perspektivwechsel: Ein Automatisierungsansatz, der Hardware und Software entkoppelt, revolutioniert nicht nur das Engineering. Das unternehmerische Potenzial ist riesig.
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Die Aussage „Weiterentwicklung braucht Perspektivwechsel“ mag eine Binsenweisheit sein, dennoch bewahrheitet sie sich immer wieder. So zum Beispiel in der Welt der industriellen Automatisierung. Mehr denn je ergibt es hier Sinn, die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Der Grund: Im Jahr 2022 muss Automatisierung nicht mehr zwangsläufig nach SPS-Logiken gedacht werden. Auf Basis der Norm IEC 61499 und deren nun verfügbarer De-facto-Standardisierung durch die Runtime der Non-Profit-Organisation UniversalAutomation.Org ist es möglich, Automatisierung an IT-Logiken zu orientieren. Das bedeutet:
- Entkopplung von Hardware und Software – im Gegensatz zu einer gegenwärtig meist üblichen Bindung von SPS und proprietärer, dazugehöriger Programmierumgebung
- Herstellerübergreifende Interoperabilität von Steuerungen
- Hardwareunabhängig erstellte Softwareapplikationen, die praktisch beliebig auf Hardwarekomponenten anderer Hersteller und/oder Generationen übertragen werden können.
Konsequent umgesetzt, bietet ein solcher herstellerunabhängiger und softwarezentrierter Automatisierungsansatz für Anwender und Anlagenbauer großes unternehmerisches Potenzial und kann das Engineering revolutionieren.
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Eigenschaften zeitgemäßer Automatisierung: Verteilt, vereinfacht, vernetzt
Automatisierung ist mitunter eine komplizierte Angelegenheit. Jeder, der schon mal eine klassische speicherprogrammierbare Steuerung programmiert hat, weiß das. Noch komplizierter wird es allerdings, wenn nicht nur einzelne Maschinen, sondern ganze Anlagen automatisiert werden müssen. Stammen in diesem Fall nicht sämtliche Hardwarekomponenten von ein und demselben Hersteller, ist es fast immer nötig, auch die Querkommunikation zwischen den Geräten mühsam einzurichten. Kommen später neue Komponenten eines anderen Anbieters oder einer neuen Steuerungsgeneration hinzu, beginnt das Spiel von vorne.
Der Engineering-Aufwand für die Programmierung und Inbetriebnahme komplexer Automatisierungssysteme ist unter den Prämissen einer proprietären Automatisierungslogik jedes Mal enorm. Besonders augenfällig wird das vor allem dann, wenn man die herkömmliche Vorgehensweise mit den Möglichkeiten eines herstellerunabhängigen und softwarezentrierten Ansatzes vergleicht.
Gerade im wissenschaftlichen Umfeld ist das Interesse an alternativen Automatisierungskonzepten, die nicht auf einer proprietären Logik basieren, schon seit längerem gestiegen. Einer der prominentesten Vertreter eines solchen alternativen Ansatzes ist Alois Zoitl, Professor für Cyber-Physical Systems for Engineering and Production an der Johannes Kepler Universität in Linz. Er benennt in seinem 2016 gemeinsam mit Thomas Strasser veröffentlichen Buch Distributed Control Applications die Kerneigenschaften einer zukunftsfähigen Automatisierungsarchitektur:
- Verteilte Intelligenz,
- Nutzerfreundlichkeit und
- unkomplizierte Konfiguration von Kommunikationsschnittstellen.
Während verteilte Intelligenz die Funktionalität und Robustheit komplexer Prozesse und Maschinen stärken soll, zielen Nutzerfreundlichkeit und eine vereinfachte Schnittstellenkonfiguration auf einen reduzierten Engineering-Aufwand sowie schnellere Markteinführungs- und Umrüstzeiten ab. Zur praktischen Umsetzung dieser Anforderungen empfehlen Zoitl und Strasser auch gleich den passenden Standard: „IEC 61499 as a reference model for highly distributed, networked industrial automation and control systems provides the basis for the realization of a future distributed architecture. It has the potential of fulfilling most of the […] needs [related to Industry 4.0].”
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Eine neue Abstraktionsebene: die von der Hardware unabhängige Softwareschicht
Grundlegendes Merkmal eines an IEC 61499 orientierten Automatisierungsansatz ist die Einführung einer zusätzlichen Abstraktionsebene. Klingt im ersten Moment kompliziert, meint aber zunächst nur, dass Hardware und Software nicht mehr voneinander abhängig sind. Anders also als bei einer SPS, die an eine bestimmte Entwicklungsumgebung gekoppelt ist.
Die auf diese Weise von der Hardware abstrahierte Softwareschicht ermöglicht es, dass automatisierte Anwendungen zunächst rein softwareseitig und völlig unabhängig von der zugrundeliegenden Hardware programmiert werden können – und zwar mithilfe von Funktionsbibliotheken, die offen und herstellerunabhängig konzipiert sein müssen.
Anhand eines bereits verfügbaren Engineering-Tools, dem EcoStruxure Automation Expert von Tech-Konzern Schneider Electric, lässt sich dieser Ansatz näher erklären.
Zunächst ist es so, dass innerhalb der Softwareumgebung von EcoStruxure Automation Expert die gesamte Anlage virtuell verfügbar ist. Unabhängig vom Hersteller liegen hier sämtliche mit einer CPU ausgestatteten Feldgeräte entweder einzeln oder in Form bereits zusammengefasster Anwendungen oder cyberphysischer Systeme vor. Auf diese Weise sind Interoperabilität und IT-OT-Konvergenz von Beginn an gegeben. Im Fall von EcoStruxure Automation Expert ist es sogar so, dass die Querkommunikation zwischen den unterschiedlichen Steuerungen selbstständig und ohne zusätzlichen Engineering-Aufwand hergestellt wird. Die Abhängigkeiten der verschiedenen Komponenten sind also jederzeit klar und die Durchgängigkeit der Datenkommunikation ist gesichert. Insofern ist eine solchermaßen gestaltete Abstraktionsebene ein idealer Unterbau für darauf aufsetzende digitale Services, etwa für die Auswertung von Daten oder vorausschauende Wartung.
Engineering per Mausklick
Die Einführung einer von der Hardware abstrahierten Softwareschicht bringt aber nicht nur für die Datendurchgängigkeit, sondern auch für das Engineering enorme Vorteile. Im Sinne des von IEC 61499 vorgesehenen Adapter-Konzepts werden dabei weniger einzelne Feldgeräte oder Antriebe automatisiert als vielmehr vordefinierte Anwendungen im Sinne von Plug & Produce zusammengeschaltet. Denkbar ist hier zum Beispiel die Anwendung Temperaturmessung oder die Anwendung Tank. Die jeweiligen Applikationen liegen in Form von Funktionsblöcken innerhalb der Softwareumgebung vor und können mithilfe des sogenannten Single-Line-Engineerings ganz einfach zur gewünschten Gesamtapplikation verbunden werden. Das Konzept ist aus der elektrischen Energietechnik im Kontext von vereinfachten Stromlaufplänen auch als Einliniendiagramm bekannt.
Der Vorteil: Indem die Funktionsblöcke oder Adapter als eine Art Black Box fungieren und so die eigentliche Komplexität einer Anwendung für den Projektingenieur sinnvoll reduzieren, ermöglichen sie ein stark vereinfachtes und weniger fehleranfälliges Engineering, bei dem die Bestandteile einer Anwendungssequenz nur noch durch das virtuelle Ziehen von Linien in Beziehung zueinander gesetzt werden. Selbstverständlich entbindet dieser Ansatz nicht gänzlich von klassischen Programmieraufgaben, aber er verteilt die Zuständigkeiten neu. Im Fall herkömmlicher SPS-Logiken werden zu jedem Zeitpunkt der Programmierung speziell geschulte Spezialisten benötigt, die gegebenenfalls für die Entwicklungsumgebung eines bestimmten Herstellers ausgebildet sind und auf Programmcode-Ebene arbeiten. Bei einem auf IEC 61499 basierenden Ansatz braucht es diese nur noch in einem ersten Schritt – zur Erstellung der Funktionsbibliotheken. Sind die entsprechenden Funktionsblöcke einmal erstellt und getestet, können diese von Projektingenieuren ohne spezielle Programmierkenntnisse zur gewünschten Anlage orchestriert werden.
Dieses weniger komplexe und beschleunigte Engineering zahlt sich für Anlagen- und Maschinenbauer, aber auch für Endkunden aus. Im Fall von Problemen mit einer Anlage ist es zwecks Fehlersuche meist nicht mehr nötig, den Programmcode einer Anwendung zu verstehen. Innerhalb der neu eingezogenen Abstraktionsebene liegt die Gesamtapplikation virtuell und in vereinfachter Art und Weise vor und die jeweiligen Abhängigkeiten und Logiken ihrer verschiedenen Elemente sind sofort und intuitiv ersichtlich.
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Engineering-Tool und Prozessleitsystem: Verteilte Intelligenz
Der EcoStruxure Automation Expert will mehr sein als „nur“ ein Engineering-Tool. Ähnlich einer virtuellen Steuerung fungiert die in der abstrahierten Softwareebene angesiedelte Entwicklungsumgebung auch als Prozessleitsystem und regelt die Ausführung der Anwendungssequenzen – bleibt also bei Planung, Programmierung und Betrieb ein integraler Bestandteil der Anlage. Von den klassischen, von einer SPS her dominierten Automatisierungs-Hierarchien unterscheidet sich ein auf IEC 61499 basierter Ausführungsansatz dabei deutlich.
Denn wo genau die einmal erstellten Programme später laufen, spielt für die Funktionsfähigkeit einer Anlage keine Rolle. Strenggenommen ist also nicht mal mehr eine SPS vonnöten. Das Programm kann ebenso auf jedes beliebige und mit entsprechender Rechenleistung ausgestattete Feldgerät, im Idealfall sogar auf mehrere vorhandene Geräte, aufgespielt werden. Jeder Teil einer Anlage verfügt dann nur über den jeweils für ihn bestimmten Teil des Programmcodes und ist nicht mehr von der Logik einer zentralen SPS abhängig.
Verteilt man die Intelligenz auf diese Weise dezentral über eine Anlage, hat das unter anderem zwei gewinnbringende Konsequenzen:
- 1. Die dezentrale Verteilung stärkt die Ausfallsicherheit. Da nicht mehr alle Komponenten von einer einzigen SPS abhängig sind, existiert keine Instanz mehr, deren Ausfall die Abschaltung der gesamten Anlage zur Folge hätte. Fällt eine einzelne Komponente aus, kann der darauf installierte Programmteil unkompliziert auf ein neues Bauteil mit CPU aufgespielt werden.
- 2. Zusätzlich kommt das Konzept einer verteilten Intelligenz der für die Annäherung an IT-Systeme deutlich besser geeigneten eventbasierten Ausführungslogik entgegen. Diese ist – im Unterschied zur klassischen, zyklischen SPS-Ausführungslogik – explizit durch IEC 61499 vorgesehen und besagt, dass einzelne Anwendungen, etwa das Leeren eines Behälters, nicht mehr in Dauerschleife nach einem möglichen Abarbeitungsbefehl fragen. Stattdessen bleiben sie so lange inaktiv, bis der entsprechende Befehl sie triggert. Das kann die CPU-Last erheblich senken.
Die Norm IEC 61499 existiert bereits seit 2005. Wieso die Zeit jetzt reif für einen Paradigmenwechsel ist, lesen Sie hier:
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So geht Automatisierung in 2022: Herstellerunabhängig und softwarezentriert
Neue unternehmerische Möglichkeiten
Mit Verwendung der Norm IEC 61499 wird die Automatisierungswelt auf Basis bekannter IT-Logiken neu geordnet. Die Einführung einer komplexitätsreduzierenden Abstraktionsebene, deren per Single-Line-Engineering orchestrierte Anwendungssequenzen auf jede beliebige Hardware aufgespielt werden können, öffnet neue Freiheiten. Nun ist es möglich, ohne großen Zusatzaufwand die jeweils besten Hardwarekomponenten für die jeweilige Aufgabe zu verwenden. Sollte eine dieser Komponenten unvermutet ausfallen, sind Anwender zudem unabhängiger von Lieferketten und Materialverfügbarkeit – ist ein Frequenzumrichter von Hersteller A nicht verfügbar, kommt einfach ein vergleichbares Modell von Hersteller B zum Einsatz. Hinzu kommt, dass keine Zeit mehr für Parallelentwicklungen verschwendet werden muss. Denn einmal erstellte Applikationen lassen sich einfach per Copy & Paste auf eine neue Variante derselben Maschinen übertragen.
Neben diesen Vorteilen fürs Engineering, schafft ein herstellerunabhängiger und softwarezentrierter Automatisierungsansatz auch eine Grundlage für völlig neue Geschäfts- und Servicemodelle. Gerade Start-Ups oder Softwareentwickler für spezifische Regelungslösungen haben es auf Basis herstellerunabhängiger Automatisierung leichter, ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Für sie, aber auch für die Käufer solcher Anwendungen zahlt es sich aus, dass die Softwareapplikationen wie aus einem App-Store heruntergeladen und per Plug-and-Produce direkt in eine Anlage implementiert werden können.
Endanwender und Maschinenhersteller können dann aus einem breiten Angebot an bereits getesteten und hochspezialisierten Softwarekomponenten auswählen und sich für die am besten geeignete entscheiden. Mit dieser völlig neuen Kategorie an softwarezentrierten Automatisierungskomponenten, die innerhalb eines digitalen Ökosystems entwickelt und vertrieben werden können, ergeben sich neue Möglichkeiten für das Engineering. Von bereits vorhandenen, aber auch neu entstehenden Technologien und Know-how lässt sich viel einfacher profitieren und das volle Potenzial von Industrie 4.0 wird nun auch in der Automatisierungsbranche freigesetzt.
* Michael Gieselmann arbeitet als Produktmanager Automation DACH bei Schneider Electric.
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