Formgedächtnislegierungen Nitinol: hoch-komplex, dabei superelastisch und enorm variabel

Das Gespräch führte Anne Hofmann |

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Der bekannteste Vertreter aus der Werkstoff-Gruppe Formgedächtnislegierungen (FGL) ist wohl Nitinol. Die Legierung aus Titan und Nickel ist wie die meisten anderen Smart Materials vielseitig einsetzbar.

Einen Überblick über Trends und Entwicklungen auf dem Gebiet von Smart Materials – besonders bei Nitinol – gibt Gerd Siekmeyer von der Acquandas GmbH.
Einen Überblick über Trends und Entwicklungen auf dem Gebiet von Smart Materials – besonders bei Nitinol – gibt Gerd Siekmeyer von der Acquandas GmbH.
(Bild: Messe Düsseldorf/Andreas Wiese)

Über die Vielzahl moderner Einsätze dieser Werkstoffe und welche Trends in der Fertigung gefragt sind, darüber sprachen wir mit Gerd Siekmeyer von der Acquandas GmbH, einem der weltweit führenden innovativen Unternehmen auf diesem Gebiet.

Das Kieler Unternehmen stellt Mikro- und Dünnschichtkomponenten für die Gesundheitsindustrie – insbesondere als OEM - kundenspezifische, medizinische Komponenten (aktive/passive Implantate, aktorische und sensorische Komponenten, Instrumente und Systeme) her. Bereits vor fünf Jahren sprach Compamed.de mit dem Experten über Formgedächtnislegierungen und deren Anwendungsmöglichkeiten. Dieses Mal wollten wir wissen, was sich auf dem Gebiet der Smart Materials getan hat.

Herr Siekmeyer, welche Trends und Entwicklungen auf dem Gebiet von Smart Materials – besonders bei Nitinol – gab es in den vergangenen Jahren?

Gerd Siekmeyer: Einerseits haben die Materialhersteller große Anstrengungen unternommen, die Legierungs-Schmelzen zu verbessern. Smart Materials aus Nitinol erfordern eine sehr enge Toleranz, Homogenität und Reinheit der atomaren Legierungsbestandteile. Je präziser dieses Verhältnis und je reiner die Bestandteile, umso reproduzierbarer lässt sich das mechanische Verhalten eines Halbzeuges beziehungsweise Bauteiles daraus einstellen.

Gleichzeitig sorgen neue Schmelzverfahren für geringere Ausscheidungen von Verunreinigungen in den Schmelzen (sogenannte nicht-metallische Einschlüsse).

Es gibt ein größeres Angebot an Halbzeugen (mehr Lieferanten, mehr Produkte). Hier gibt es speziell kleinere und größere Bänder, Drähte, Rohre und Bleche zum Product-Engineering.

Aber auch neue Fertigungstechnologien, wie zum Beispiel das Laser-Lathe- (Präzisions-Drehen und gleichzeitiges Abtragen mit einem Ultrakurzpuls-Laser), Ultrakurzpulslaser- oder Erodier-Verfahren, erlauben die Fertigung von komplexeren, kleineren Bauteilen.

Das alles führte auch zu neuen Anwendungsfeldern von Smart Materials in immer mehr Implantaten und Instrumenten. Waren es früher hauptsächlich reine vaskuläre Stent-Applikationen in denen Smart Materials eingesetzt wurden, finden sich heute Anwendungen in vielen neuen medizintechnischen Produkten: zum Beispiel für die minimal-invasive Schlaganfallbehandlung, die bioelektronische Neurotechnologie oder Elektrophysiologie, katheterbasierte Herzpumpen, Inbody-Sensoriken, ophthalmologische, neurochirurgische oder robotergesteuerte Präzisionsinstrumente oder Wearables.

Obwohl Nitinol keine neue Entdeckung ist, scheint an Anwendungsmöglichkeiten noch immer kein Ende erreicht. Welche Grenzen oder Hürden in der Fertigung gibt es derzeit?

Nitinol ist ein hochkomplexes Material, das sich gerade mit ingenieurtechnisch raffinierten und speziellen Mikroprozessen sehr variabel, sicher und gut verarbeiten lässt. Im Vergleich mit Kunststoffen ist dazu der Kilogrammpreis um mehr als das zehnfache höher. Es lässt sich zwar heute „alles irgendwie herstellen“, was sich mit einem modernen CAD konstruieren lässt, aber nicht unbedingt optimal und kostengünstig. Gerade bei Smart Materials gibt es viele, sehr spezielle Prozesswege in der Fertigung, die nicht direkt mit klassischen Herstellungsrouten oder auch Designlösungen vergleichbar oder anwendbar sind. Um hier das volle Potential auszuschöpfen, müssen Designende, Entwickelnde und Fertigende partnerschaftlich sehr eng und frühzeitig zusammenarbeiten, um das spezifische Fertigungs-Know-How auch in ein Produktdesign einfließen zu lassen. Am Ende gilt es die optimale Balance und Lösung zu finden.

Was macht die Arbeit mit intelligenten Werkstoffen so spannend?

Smart Materials werden immer hochkomplexe Werkstoffe sein, gerade im Vergleich zu einfachen Kunststoffen oder Metallen. Der Nachteil der Werkstoffkomplexität ist aber auch ein riesiger Vorteil. Da diese Werkstoffklasse viel variabler ist, lassen sich hier sehr komplexe Anforderungen viel individueller realisieren und integrieren. Allein über spezifische Werkstoffcharakteristika können so umfangreiche technische Funktionen auf kleinstem Raum „eingebaut“ werden, die zu einer signifikant höheren Funktionsdichte führen. Damit sind kleinere und kostengünstigere Produktlösungen machbar. Besonders die vielen Facetten von modernen Smart Materials machen das Arbeiten sehr spannend, erfordern aber auch Mut zum Lernen und Anwenden neuer Wege und Möglichkeiten.

Welches sind derzeitige State-of-the-Art-Prozesse in Sachen additiver Fertigung und wie funktionieren sie?

Bei Nitinol gibt es zwei Arten additiver Fertigung: Der auch im 3D-Druck verwendete klassische Fertigungsprozess beruht auf der Verarbeitung metallischer Pulver. Das heißt, man muss ein Vollmaterial erst technisch verpulvern, um es am Ende zu einem Festkörper zu sintern. Durch den Verpulverungsprozess wird aber auch die Chemie eines Werkstoffs leicht modifiziert. Es reichert sich zum Beispiel mehr Sauerstoff in einer Legierung an und es entsteht am Ende Porosität beim Sinter-Prozess. Ein aus diesem Werkstoff gefertigtes Bauteil kann dann nur bedingt für vaskuläre Implantate verwendet werden, dafür aber für andere Medizintechnikanwendungen: zum Beispiel Zahnklammern oder Dentalbohrer.

Ein ultrapräziser, additiver Fertigungsprozess daneben ist zum Beispiel das PVD-Sputterverfahren, was auch wir bei der Acquandas GmbH einsetzen. Bei diesem Verfahren werden unter Hochvakuum Atome aus einem Nitinol-Festkörper-Target durch Beschuss mit energiereichen Edelgas-Ionen herausgelöst und so in die Gasphase überführt. Das Material wird also „atomar zerstäubt“, schlägt sich anschließend auf einem Substrat nieder und bildet hier eine feste porenfreie Schicht im richtigen Legierungsverhältnis. Mit diesem Verfahren lassen sich Materialstärken von bis ca. 0,1 mm Dicke hochpräzise und strukturiert erzeugen. Ein großer Vorteil dieses Verfahrens ist, dass sich spezifische Schichtsysteme mit besonderen Eigenschaften und Funktionen – auch aus ganz unterschiedlichen Werkstoffgruppen – aufbauen lassen.

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Acquandas ist auch in aktuellen Forschungsprojekten involviert. Welche Rolle spielen FGL dabei jeweils?

Die Werkstoffeigenschaften von Formgedächtnislegierungen erlauben viele unterschiedliche Sensorik-Anwendungen. Bei Dehnungssensoren verwendet man beispielsweise die spezifischen elektrischen Eigenschaften von FGL in Kombination mit der hohen Dehnbarkeit des FGL-Materials. Gerade bei Leichtbau-Verbundwerkstoffen oder textilen Produkten, wie Prothesen, Exoskeletten oder steuerbaren Kathetern, ist das sehr gefragt.

Es gibt aber über neue Sensorkomponenten aus FGL auch die Möglichkeit, das Anwendungsspektrum von Standarddrucksensoren zu erweitern oder zu verbessern. So können zum Beispiel gasdichte und biokompatible Einhausungen oder hauchdünne Membranen aus FGL-Werkstoffen für medizintechnische Langzeit- und Mikro-Applikationen genutzt werden.

Anwendungen der Neurotechnik verwenden Komponenten und Bauteile zur bioelektronischen Stimulation und Detektion an Nerven. Dabei bildet das smarte (FGL-) Material den flexiblen mechanischen Träger, wodurch eine gezielte Anwendung über das vaskuläre System möglich wird. In Kombination mit Schichtwerkstoffen ist dann eine weitere Funktionalisierung dieser Bauteile möglich, zum Beispiel zur Behandlung neurologischer Erkrankungen über elektrische Impulse.

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