Smarte Fabrik Mercedes-Benz MO360: Digitales Ökosystem für eine effizientere Fertigung
Mercedes will bis zum Jahr 2022 seine Pkws deutlich effizienter produzieren. Dazu hat der Autohersteller ein digitales Ökosystem entwickelt, dass die Daten der Werke weltweit vereint.
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Sensoren, die Cloud, Facebook, Open-Source-Software und schneller Mobilfunk: Das sind stark vereinfacht die Werkzeuge, mit denen Mercedes seine Fertigung optimiert. „Wir werden bis zum Jahr 2022 die Effizienz in der Produktion um mehr als 15 Prozent steigern, beschreibt Jörg Burzer das ehrgeizige Ziel. Burzer ist Mitglied des Vorstandes und verantwortlich für Produktion und das Supply Chain Management des Unternehmens. Er leitet gemeinsam mit Daimlers Chief Information Officer Jan Brecht das Projekt „Mercedes-Benz Cars Operations 360“, oder kurz MO360.
Der Begriff beschreibt ein digitales Ökosystem, das vollständig ins Shopfloormanagement eingebunden ist und jederzeit einen umfassenden Echtzeit-Blick auf die Produktion ermöglicht. In seiner „Factory 56“ setzt es der Automobilhersteller bereits ein; noch versuchsweise, ab September 2020 in der Serienfertigung unter anderem der S-Klasse.
Die Fabrik in der Fabrik ist im weitesten Sinn eine Montagehalle im Sindelfinger Werk, in dem die S- und E-Klasse entstehen. Ihre Besonderheit: Big-Data-Analysen der wichtigsten Produktionsprozesse und IT-Systeme – etwa die Qualitätssicherung oder die vorausschauende Wartung, maschinelles Lernen und schnelle Entscheidungen basierend auf umfangreichen und flächendeckend verfügbaren Echtzeitdaten.
Individuelle Information über Fehler
Ein Beispiel: Weicht ein Wert in der Produktion von der Vorgabe ab, informiert das System nur den jeweils zuständigen Mitarbeiter und Qualitätsmanager. Weil das System alle vorausgegangenen Fertigungsdaten erfasst hat, lässt sich so auch die Ursache für die Abweichung erkennen und im besten Fall sofort beheben.
Viele der Techniken und Prozesse setzt Daimler bereits in seinen weltweit mehr als 30 Pkw-Werken ein, MO360 vereint wichtige Softwaretools aller Werke. „Wir betrachten dabei sämtliche Produktionsprozesse aus allen Winkeln und digitalisieren sie“, beschreibt Burzer. Die Hauptkomponenten sind bereits ausgerollt oder werden es derzeit, sagte der Manager im Gespräch Ende Juli, weitere Anwendungen sollen folgen. „Das unterscheidet uns vom Wettbewerb, wir setzen diese Themen jetzt um.“
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Transparente, schlanke Abläufe
Das heißt: Prozesse in der Fertigung werden transparenter, bislang getrennte Prozesse lassen sich nahtlos vernetzen – Abläufe werden schlanker, die Effizienz steigt. Dazu gehört es, alle Fahrzeuge in den Werkhallen in Echtzeit und auf den Zentimeter genau zu orten, so dass jede Applikation im System jederzeit weiß, wo sich welches Fahrzeug befindet. Möglich macht das der Mobilfunkstandard 5G, den Mercedes als Campus-Netzwerk seit etwa sechs Monaten im Betrieb hat.
Konkrete Werte für die Ersparnis – die sich auf das Vergleichsjahr 2019 bezieht – nennt Burzer nicht. Die Basis des Systems soll sich nach seiner Aussage aber in etwa drei Jahren amortisieren, die Features die darauf laufen schon in 18 Monaten. „Den größeren Effekt sehen wir natürlich am Anfang.“ Der nächste Schritt betrifft die Logistik, die bislang noch kein Bestandteil des Systems ist. „Wir denken aber darüber nach, vor allem mit Blick auf JIT- und JIS-Abläufe – hier benötigen wir eine sehr enge Kopplung zwischen Produktionssteuerung und Logistik.“
Aktuell sehen Burzer und Brecht großes Effizienz-Potenzial in der Nacharbeit, vor allem in der „First Time Quality“. Die Kennzahl beschreibt, wie viele der gefertigten Fahrzeuge ohne Nacharbeit außerhalb der Montagebänder das Werk verlassen können. „Effizienzgewinn bedeutet nicht automatisch eine Reduktion der Beschäftigtenzahlen“, beschreibt Burzer in diesem Zusammenhang. Mit Blick auf die Nacharbeit bedeutet sie: „Wir helfen den Mitarbeitern in der Fertigung, eine bessere Qualität abzuliefern.“
Daten für folgende Produktionsschritte
Das Datensammeln in der Fertigung beginnt beim ersten Fertigungsschritt im Rohbau. Die Spaltmaße zum Beispiel sind für spätere Produktionsschritte relevant und stehen entsprechend für alle folgenden Schritte zur Verfügung. Die Mitarbeiter in der Produktion erhalten ihre Informationen individuell und vollständig digital. Sämtliche Rückmeldungen tätigen die Werker ebenfalls digital, zum Beispiel Informationen zu durchgeführten Qualitätsprüfungen. Das klingt trivial, „alleine in der Factory 56 sparen wir so aber jährlich bis zu zehn Tonnen Papier“, beschreibt Burzer.
Hier kommt nun auch Facebook ins Spiel: „Wir wollten auf unseren Endgeräten eine benutzerfreundliche Oberfläche haben, und die findet sich heute bei Consumer-Produkten. Wir nutzen dazu einen Open-Source-Code, den Facebook zur Verfügung stellt“, beschreibt Brecht. Der Code-Schnipsel ist zwar nur eine kleine Komponente des Gesamtsystems, bestimmt aber, wie gut Inhalte auf den Bildschirmen dargestellt werden.
Stichwort: Ergonomie. Die Mitarbeiter tragen zum Beispiel Geräte am Handgelenk, um beide Hände frei zu haben. Oder sie erhalten Informationen per Smartphone. Das beinahe schon Trend-Thema Datenbrille sieht Burzer dagegen kritisch: „Wir haben die Anwendung getestet und die Mitarbeiter waren damit sehr produktiv – für etwa 30 bis 45 Minuten. Danach gab es häufig ergonomische Probleme, manchen Mitarbeitern würde übel, andere konnten sich nicht gut konzentrieren. Dazu kommt, dass ältere Modelle der Brillen bei längerem Betrieb sehr warm werden. Das ist noch nicht ideal.“
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Lieferanten ins System einbinden
Die Voraussetzung für das vollumfängliche Vernetzen ist eine gemeinsame Sprache aller eingebundenen Geräte. Mercedes setzt dafür die Steuerungssoftware „Integra“ ein: von der Sensorebene an einzelnen Maschinen, in der Produktionsleitung – und an der Schnittstelle zu seinen rund 2.000 Lieferanten und Systempartnern. „Wir können uns vorstellen, interessierte Lieferanten einzubinden – wir würden es begrüßen“, sagt Brecht. „Auch deshalb achten wir darauf, dass die Zusammenarbeit technisch möglich ist.“ Erste Gespräche mit Lieferanten führe der Konzern bereits.
Die Entwicklung von MO360 leisten cross-funktionale Teams aus Produktions- und IT-Experten. „Organisationsgrenzen spielen keine Rolle mehr“, sagt Brecht. „Alle Teams nutzen das Feedback aus der Produktion, um die digitalen Werkzeuge weiterzuentwickeln und zu optimieren. Software verbessern sie in kurz-zyklischen Sprints; auch, um den Anwendern in regelmäßigen Abständen erlebbaren Mehrwert zu liefern. So schaffen wir regelmäßige Software-Release-Zyklen von nur zwei Wochen. Für Software-Engineering im Produktionsbereich ist das ein absoluter Bestwert“, erläutert Brecht.
Das Ganze nennt sich „DevOps“. Das bedeutet: Integrierte Teams sind verantwortlich für die Entwicklung (Development) und den späteren Betrieb (Operations) der Softwarekomponenten. Technologisch nutzt das System modulare API-Schnittstellen (Application Programming Interface), skalierbare Cloud-Anwendungen – und Free and Open Source Software.
Offene Software für produktionskritische Daten? „Open Source ist die sicherste Art, Software zu entwickeln – weil jeder sehen kann, was in jeder Zeile steht“, beschreibt Brecht. „Einer proprietären Software, einer Blackbox, müssen Sie vertrauen.“
Selbst die Fertigung optimieren
Apropos Vertrauen: Die digitalen Komponenten der S-Klasse-Produktion sind in einem sogenannten „Software Repository“ einseh- und veränderbar; innerhalb vorgegebener Bedingungen. „Das Software Repository ist die unterlagerte Struktur jeder Open-Source-Software. Hier bilden sich Gruppen, die Spaß daran haben, ein softwaretechnisches Problem zu lösen“, erklärt Jan Brecht. „Wir haben in dieser Ablage bereits über 20.000 Nutzer“
Wer schon immer einmal die Produktion der eigenen S-Klasse mitgestalten wollte – hier ist es möglich. „Im dritten Quartal 2020 werden wir unser MO360-Frontend Toolkit auf Github.com veröffentlichen. Wir sind schon gespannt auf Rückmeldungen und vor allem ergänzende Innovationen von der weltweiten Community.“
In einem nächsten Schritt nach dem Rollout will Mercedes-Benz an einem Standort eine komplette Fabrik mit MO360 vernetzen, als digitale Test-Fabrik für das neue Ökosystem. Denkbar sei außerdem, Bestandteile von MO360 interessierten Partnern zur Verfügung zu stellen.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich auf unserem Partnerportal Automobil Industrie erschienen.
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