Industrie der Zukunft Lean-Prinzipien und vernetzte Industrie: Wertschöpfungspotenziale 4.0

Redakteur: Julia Bender

Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Hochschule Karlsruhe und des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung konnte brachliegende Wertschöpfungspotenziale in der deutschen Industrie in Höhe von 95 Milliarden Euro pro Jahr identifizieren.

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Die Umsetzung von schlanken und digitalen Prozessen verspricht bisher ungenutzte Potenziale für die Steigerung der Arbeitsproduktivität und Produktionsqualität.
Die Umsetzung von schlanken und digitalen Prozessen verspricht bisher ungenutzte Potenziale für die Steigerung der Arbeitsproduktivität und Produktionsqualität.
(Bild: gemeinfrei / Pexels )

Um die industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu sichern, braucht es eine hohe Produktivität. Zurzeit stagniert der Produktivitätszuwachs in der deutschen Industrie jedoch und die Arbeitsproduktivität verringerte sich von 2017 bis 2019 sogar um 1 Prozent pro Jahr. Mit Blick auf die abnehmende Produktivität aufgrund der COVID-19-Pandemie wird deshalb deutlich, dass schnellstmöglich Maßnahmen ergriffen werden sollten, will man eine nachhaltige und dauerhafte Steigerung der Produktivität in deutschen Unternehmen ermöglichen.

Auf Basis dieser Erkenntnisse erforschten das Institut für Lernen und Innovation in Netzwerken (ILIN) der Hochschule Karlsruhe, das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg und das Institut für Produktionserhaltung e. V. die Wertschöpfungspotenziale im deutschen Verarbeitenden Gewerbe.

Mithilfe von Experteninterviews, die in acht exzellenten Produktionsunternehmen geführt wurden, einer Umfrage des ISI, an der 1256 Betriebe teilnahmen, und Daten des Statistischen Bundesamts wurde ermittelt, wie umfassend Lean-Prinzipien und Industrie 4.0-Technologien in Betrieben des deutschen Verarbeitenden Gewerbes genutzt werden und inwiefern sie mit der Produktivität innerhalb des Unternehmens zusammenhängen.

Bisherige Umsetzung von Lean-Prinzipien und Industrie 4.0-Technologien

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die deutsche Industrie noch erhebliche Defizite bei der Umsetzung von ganzheitlichen Wertschöpfungssystemen aufweist: Der durchschnittliche Lean-Umsetzungsgrad der Betriebe betrug bei einer Skala, die von 0 bis 7 reichte, lediglich 2,2. Wörtlich lässt sich Lean Management als „schlankes Management“ übersetzen und folgt der Idee, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert und dadurch Verschwendung reduziert. Darüber hinaus hat jedes fünfte Unternehmen keinerlei Lean-Methoden, zu denen beispielsweise die Wertstromanalyse oder der 5S-Ansatz zählen, im Einsatz.

Auch bei der Umsetzung von Industrie 4.0-Technologien, tun sich viele Betriebe schwer: jedes siebte Industrieunternehmen nutzt keine dieser Technologien und lediglich 18 Prozent befinden sich in der Spitzengruppe der Technologienutzung. Das liegt laut der Umfrage vor allem an einer unzureichenden Nutzenermittlung und einer heterogenen Datenqualität sowie hohen Investitionen, die insbesondere die Durchdringung von kleinen und mittleren Unternehmen hemmen.

Im Vergleich mit den anderen deutschen Bundesländern schneidet Baden-Württemberg gut ab und nimmt eine führende Rolle ein. Mit einem mittleren Lean-Indexwert von 2,6 steht Baden-Württemberg bei der Nutzung von Lean-Prinzipien in der Produktion an erster Stelle. Zusätzlich befindet sich das Bundesland bei der Anwendung von Industrie 4.0-Technologien unter den Top 3 und auch bei der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität im Verarbeitenden Gewerbe belegt es eine der ersten drei Positionen.

Der Studie zufolge ist die Beziehung zwischen Lean-Prinzipien und Industrie 4.0 reziprok. Das heißt, je höher der Lean-Einsatz in einem Unternehmen, desto höher dessen Reifegrad bei Industrie 4.0-Anwendungen und umgekehrt. Dennoch scheinen Lean-Prinzipien das führende Konzept der beiden zu sein, da sie den Einsatz digitaler Technologien unterstützen, erweitern und verstärken. „Die alleinige Digitalisierung der Produktion führt nicht zwangsläufig zu Produktivitätszuwächsen“ unterstreicht die Expertin des Fraunhofer ISI Angela Jäger. Industrie 4.0-Technologien haben jedoch das Potenzial, bisher noch unentdeckte Verschwendung aufzuzeigen und dadurch die positiven Effekte einer Lean-orientierten Verschwendungsreduktion zu verstärken.

Auswirkungen auf Qualität und Produktivität

Die Forscherinnen und Forscher haben zudem herausgefunden, dass sich eine konsequente und ganzheitliche Nutzung von Lean-Prinzipien positiv auf die Qualität der Produktion und die Arbeitsproduktivität auswirkt. Eine intensive Lean-Nutzung verringert die Ausschussquote signifikant und Unternehmen mit einer umfassenden Lean-Nutzung (Indexwert von 7) weisen eine um 14 Prozent gesteigerte Arbeitsproduktivität auf als Betriebe, die lediglich ein durchschnittliches Lean-Nutzungsniveau (Indexwert von 2,2) erreichen. Dies entspricht einem Produktivitätsvorsprung von etwa 6,5 Jahren. „Bei einer Bruttowertschöpfung im deutschen Verarbeitenden Gewerbe von etwa 667 Milliarden Euro im Jahr 2019 ergibt sich daraus ein unausgeschöpftes Wertschöpfungspotenzial von etwa 95 Milliarden Euro“, erklärt der Leiter des ILIN an der Hochschule Karlsruhe Prof. Dr. Steffen Kinkel. Zusätzlich hat sich gezeigt, dass die Produktionsqualität nicht nur von der Branche des Betriebs und der Fertigungsart abhängt, sondern auch durch den Grad der Einführung von Lean-Prinzipien erklärt werden kann.

Auch für den Einsatz von Industrie 4.0-Technologien konnte ein positiver Einfluss auf die Arbeitsproduktivität verzeichnet werden. Die Qualität der Produktion ist hingegen nicht zwangsläufig abhängig von der Umsetzung von Technologien zur digitalen Vernetzung.

Wann sind die Konzepte erfolgreich?

Damit die Implementierung beider Konzepte erfolgreich abläuft, sollte der Faktor Mensch berücksichtigt werden. Die Mitarbeiter, denen zukünftig die Aufgabe der Anwendung von Industrie 4.0-Technologien und Lean-Prinzipien zukommt, sollten von den Führungskräften abgeholt und mitgenommen werden, um sie entsprechend zu qualifizieren. Außerdem ist das Vorleben von Routinen und einer Leitkultur elementar. Da die monetären Auswirkungen der Konzeptanwendung erst mittelfristig spürbar werden, ist auch eine gewisse Beharrlichkeit, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen unabdingbar.

Bei Interesse können Sie dem Abschlussbericht Wertschöpfungspotenziale 4.0: Bewertung der ungenutzten Wertschöpfungspotenziale der baden-württembergischen und deutschen Industrie in Zeiten der Digitalisierung der Wertschöpfung weitere Informationen entnehmen.

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