Digitale Transformation stockt Ist der Mittelstand an der Industrie 4.0 gescheitert?

Ein Gastbeitrag von Dr. Christian Liedtke* Lesedauer: 7 min

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Mehr als zehn Jahre ist die Industrie 4.0 alt. Eine Disruption ist bisher nicht wahrzunehmen. Derweil steht der Mittelstand vor ganz anderen Herausforderungen. Treten Industrie 4.0-Initiativen daher in den Hintergrund und wie könnte die praktische Umsetzung gelingen?

Industrie 4.0 kostet Geld, der Nutzen erschließt sich oft erst mit Verzögerung – und deshalb zögerte so mancher Maschinenbauer mit dem Einstieg.
Industrie 4.0 kostet Geld, der Nutzen erschließt sich oft erst mit Verzögerung – und deshalb zögerte so mancher Maschinenbauer mit dem Einstieg.
(Bild: frei lizenziert / Unsplash)

Der für die Öffentlichkeit wirksame Startschuss zu Industrie 4.0 fiel im April 2013 auf der Hannover Messe mit der Gründung der Plattform Industrie 4.0 unter Führung der Branchenverbände Bitkom, VDMA und ZVEI. Der Fortschritt in der Organisation der Gremien und der Schaffung von Standards war allerdings in den zehn Jahren für Außenstehende kaum zu bemerken. Ein Blick auf den Digitalisierungsindex der Bundesregierung für 2021 weist im Vergleich mit dem Vorjahr 2020 zwar auf positive Entwicklungen in der digitalen Vernetzung der Unternehmen hin, doch wer nach der digitalen Entwicklung von Produkten und Geschäftsmodellen sucht, findet in der Studie nur einen geringen Anstieg von 9,5 beziehungsweise 2,2 Punkten.

Besonders der Mittelstand sieht Industrie 4.0 immer wieder zwiespältig. Das zeigt etwa eine Zusammenfassung – aus der Zeit vor der Pandemie – von kritischen Stimmen und einschlägigen internationalen Studien OWL Maschinenbau. Der Verband warnt in der Zusammenschau, dass die deutsche Industrie im internationalen Vergleich zurückfällt.

Die Studie von 2018 der Impuls-Stiftung nennt es das „Produktivitätsparadoxon im Maschinenbau“. Der Maschinenbau, als einer der Kernbranchen des Mittelstands, zeigte nach der Finanzkrise von 2008 bis zum Jahr 2017 eine erstaunliche Erholung mit mehr Beschäftigung (plus sieben Prozent) und einem Umsatzzuwachs von 13 Prozentpunkten. Dabei war auch die Umsatzrendite mit acht Prozent wieder auf dem Niveau vor der Finanzkrise. Als paradox bezeichnen die Studienautoren hingegen, dass die Produktivität nach 2009 nicht wieder das Vorkrisenniveau erreicht hat, sondern in den Jahren 2011 bis 2015 sogar sank und im Stichjahr 2015 um zehn Prozent unter dem Industriedurchschnitt im In- und Ausland lag. Zu den möglichen Ursachen stellt die Studie einige Thesen auf. In Sachen Digitalisierung liegt ihre erste These auf der Hand: Industrie 4.0 kostet Geld, der Nutzen erschließt sich oft erst mit Verzögerung – und deshalb zögerte so mancher Maschinenbauer mit dem Einstieg.

Keine Zeit für Industrie 4.0?

Der Maschinenbau wurde ohnehin überrollt von der Entwicklung der vergangenen Jahre, die alle Unternehmen in einen Reaktionsmodus versetzte und strategische Planung zurückdrängte. Da war die Pandemie, die Lieferketten und Belegschaften gewaltig unter Druck setzte. Als Nächstes folgte der Ukraine-Konflikt, der die Energiepreise nach oben trieb. Über allem schwebt der drohende Klimawandel, der auf politischer Ebene, in der EU und in Deutschland, eine ganze Reihe von Vorschriften und Gesetzen in Gang brachte, denen sich die Unternehmen derzeit stellen müssen oder in den nächsten Jahren zu stellen haben. Die Stichworte dazu sind Environmental, Social and Governance (kurz: ESG) einschließlich CO2-Bilanzen sowie der European Data Act und das Lieferkettengesetz.

Angesichts dieser Herausforderungen könnten 4.0-Projekte am Verlauf der Geschichte scheitern. Denn wer hat dafür noch Geld und Zeit?

Ärmel hoch und endlich machen!

Für eine Organisation wie die Open Industry 4.0 Alliance ist die derzeitige Lage der weltweiten Wirtschaft ein positiver Ansporn, und das liegt an ihrem praxisgerechten Ansatz. Die Allianz wurde 2019 auf der Hannover Messe gegründet und ist seither auf über 100 Mitgliedsunternehmen angewachsen.

In den inzwischen sieben technischen Arbeitsgruppen und zurzeit ebenfalls sieben Branchenarbeitsgruppen setzt die Allianz ganz konkret Projekte um. Sie definiert keine neuen Standards, sondern arbeitet mit den Standardisierungsgremien zusammen und nutzt etwa I/O Link, OPC UA, Eclass oder Namur für eine durchgängige Kommunikation zwischen Maschinen. Unterschiedliche Softwarelösungen von Mitgliedern und deren Kunden bindet die Allianz neutral und vorwettbewerblich in den Gesamtprozess ein.

Unternehmen, die ihre digitale Transformation vorantreiben oder etwa den gesetzlichen Zwängen gerecht werden wollen, finden bei der Allianz Arbeit in praktischen Projekten. Praktiker der Mitglieder tauschen dabei auch ihre Erfahrungen aus. Selbst Nicht-Mitglieder können einen Nutzen ziehen, wenn sie als Kunde eines Mitglieds ihr Vorhaben auf den Tisch bringen und alle gemeinsam an der Umsetzung arbeiten.

Bei der Verbindung zwischen Werkshalle und Chefetage setzt die Allianz naturgemäß im Shopfloor an. Dabei ist immer die Etablierung von Sensoren und Aktoren der erste Schritt, der sich allerdings in eine gesamte Architektur der Allianz einfügt.

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Die praktische Umsetzung: drei Branchenbeispiele

Zum praxisgerechten Vorgehen der Allianz gehört eine konkrete Architektur. Auch hier wird das Rad nicht neu erfunden. Die Architektur dient zur Strukturierung der Projekte und orchestriert die bereits oben genannten Standards. Es sind vier Ebenen mit jeweils zwei Levels in der Werkshalle – also dem Shopfloor – und zwei Stufen in der Cloud. Im Shopfloor sind dies Open Edge Connectivity und Open Edge Computing, bei letzterer Ebene werden Sensoren- und Aktorendaten bereits konsolidiert und beispielsweise für Docker-Container aufbereitet. Die Cloud-Ebene umfasst die Open Operator Cloud Platform und Common Cloud Central. Während in der Open Operator Cloud Platform, neben der Verbindung zur Edge, Platform Services etabliert werden und zum Beispiel die von der Bundesregierung geförderte Verwaltungsschale (englisch Asset Administration Shell) beheimatet ist, geht es bei Common Cloud Central in die Bereiche, die eine semantische Struktur für Dinge und Prozesse bündeln und schließlich auch die Kommunikation zwischen Clouds verschiedener Unternehmen ermöglichen. Dieser Architektur folgen bereits einige Beispiele, etwa in der Logistik-, Verpackungs- und Prozessindustrie.

In der Logistik hat zum Beispiel ein anfängliches Kernteam von Mittelständlern wie Gebhardt Intralogistics Group und Dunkermotoren – beides Allianz-Mitglieder – in nur drei Monaten im voll in Betrieb befindlichen Hauptlager von Gebhardt ein übergreifendes Industrie-4.0-Projekt eingerichtet. Es ging dabei im ersten Schritt um die Überwachung von kritischen Komponenten, die bei einem Ausfall die Prozesse in einem hochautomatisierten Lager zum Stehen bringen. Hier werden die Dunkermotoren in den Shuttles von Gebhardt überwacht. Dabei ging es um eine Allianz-konforme Integration entsprechend der Verwaltungsschale, die vor allem Digitale Zwillinge definiert. Die verschiedenen Shuttles im Lager sind physikalisch und – über ihre Digitalen Zwillinge virtuell – in die übergreifende Cloud-Architektur der Allianz eingebunden. Ziel ist Predictive Maintenance und Vermeidung von Stillstand im Lagerbetrieb.

Vorteile für kleinere Mitglieder im Allianzverbund

Bei einem Projekt in der Lebensmittelindustrie ging es vordergründig um Revisionssicherheit. Welche Produktionsgeschichte steckt hinter jeder einzelnen Charge? Dies wollte ein schwedischer Wurstfabrikant erreichen. Hier waren anfänglich die Allianz-Mitglieder Endress + Hauser, Multivac und Schiwa involviert. Multivac hat bereits ihre Thermoform-Maschinen beim Kunden mithilfe von Edge Device zur Cloud verbunden und bietet ihre sogenannten Smart Services an, um dem Kunden bestmögliche Transparenz zu verschaffen. Die Schiwa Hochleistungsschneideanlage sendet mit Hilfe von OPC-UA über das Edge Device der Multivac Thermoformer Daten in die Cloud. Das Prinzip der Schiwa Overall Equipment Effectiveness (kurz: OEE) ist damit gesetzt und erste Berichte aus dem Cloud Cold Storage stehen Schiwa und dem Kunden zur Verfügung. An diesem Beispiel zeigt sich auch der Vorteil für kleinere Mitglieder. Es entstehen innerhalb der Allianz Eigenschaften out-of-the-box, ohne dass dafür eine eigene Cloud-Lösung geschaffen werden muss. Nicht nur Verpackungs- und Schneidemaschinen werden eingebunden, sondern im nächsten Schritt auch Abfüllanlagen, Zähl- und Wiegetechnik sowie Etikettierlösungen.

Ein Projekt in der Prozessindustrie wurde in einer Modellfabrik in der Nähe von Rotterdam in den Niederlanden umgesetzt. Im Flow Center of Excellence, als Teil der Duurzaamheidsfabriek (deutsch: Nachhaltigkeitsfabrik) wurde ein sehr komplexes Transformationsprojekt angegangen. Das Integrationsprojekt setzt natürlicherweise in der Edge an, also bei dem mit Wasser betriebenen Flow Loop. Die Verkabelung und Umsetzung der Signale von Sensoren und Aktoren geschieht wie branchenüblich in Rangierschränken. Branchenkenner wissen, wie komplex Prozessanlagen bereits auf dieser Umsetzungsebene sind. Reale Prozessanlagen in Fabriken verfügen über 5.000 bis über 25.000 Sensoren und Aktoren, die in bis zu 60 Schaltschränken konsolidiert werden.

In diesem Projekt wurden in der Modellanlage drei Schaltschränke neu hinzugefügt. Im Fall der Installation am Flow Loop wurden in zwei Segmenten alternative Wege der Konnektivität erprobt. Das Projekt hat auch den Zweck, den beteiligten Mitgliedern der Open Industry 4.0 Alliance die Möglichkeit zu bieten, ihre Software und Hardware mithilfe von der verschiedenen Kommunikationsprotokolle einzurichten. An Stellen, wo ein Standard mehrere Alternativen eröffnet, greift die Allianz ordnend ein. Sie definiert beispielsweise im Fall des MQTT-Broker in diesem Case aktiv die Struktur der Nutzdaten, da diese innerhalb des MQTT-Formats unterschiedlich aufgebaut sein können. Insgesamt elf Mitglieder der Allianz sind am „OI4 Demonstrator for Process Industry“ unmittelbar oder mittelbar beteiligt. Die vorhandene Installation ist ein Mix aus Komponenten von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern – wie es auch sonst in der Realität üblich ist.

Gemeinsame Semantik der Industrie

An den genannten Beispielen erweist sich, dass die Mitglieder innerhalb der Allianz durch ihre projektbezogene Arbeit schnell Fortschritte erzielen und so mit der Industrie 4.0 besser Schritt halten können. So beschreiten auch und insbesondere mittelständische Mitglieder der Allianz zügig den Weg von Asset und Application zum Prozess in einer Fabrik bis hin zum Unternehmen insgesamt und schließlich einer gemeinsamen Semantik, d. h. einer einheitlichen Maschinensprache, über alle Unternehmen einer Industrie hinweg. Von einem Scheitern der Industrie 4.0 im Mittelstand kann also keine Rede sein; dennoch sind noch einige Schritte zu gehen, um am digitalen industriellen Puls der Zeit zu sein.

* Dr. Christian Liedtke ist seit 2017 als Principal Consultant sowie Head of Strategic Alliances bei Kuka tätig. Außerdem ist er seit Gründung der Open Industry 4.0 Alliance Teil des Kernteams, seit Dezember 2022 ist er Vorstandvorsitzender der Allianz.

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