Sensorik / Edge Computing IoT-Retrofitting macht alte Abkantmaschine Industrie-4.0-fähig

Autor / Redakteur: Martin Ortgies / Dipl.-Ing. (FH) Reinhold Schäfer

Daten von älteren Maschinen zu erhalten, ist oft ein Problem. Ein Hersteller von Beschlagtechnik hat deshalb eine 18 Jahre alte Maschine per IoT-Retrofitting nachgerüstet. Mit der Wireless-Version der Mica von Hartin werden die Daten reduziert und in die Cloud zu Amazon Web Services (AWS) übertragen.

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Bei dieser 18 Jahre alten Abkantmaschine erhält man nun nach dem Retrofitting eine Auswertung der Maschinendaten mit monatlicher Übersicht der produktiven Zeiten, der Ausfall- und Störungszeiten, der Nebentätigkeiten und Justagen sowie über die gesamte Einsatzzeit.
Bei dieser 18 Jahre alten Abkantmaschine erhält man nun nach dem Retrofitting eine Auswertung der Maschinendaten mit monatlicher Übersicht der produktiven Zeiten, der Ausfall- und Störungszeiten, der Nebentätigkeiten und Justagen sowie über die gesamte Einsatzzeit.
(Bild: Harting)

Häfele SSJ, ein Hersteller von Beschlagtechnik hatte mit seiner 18 Jahre alten Abkantmaschine (Bild 1), einem zentralen Element seiner Blechteilefertigung, immer wieder Probleme. Es kam zu ungeplanten Stillständen, die Materialzufuhr stockte, der Ausschuss nahm immer wieder sporadisch zu und die Maschine musste häufig nachjustiert werden. Die Gründe für die Störungen waren meistens nicht ersichtlich. „Es fehlte an verlässlichen Daten zur Verfügbarkeit, Auslastung und Effizienz der Maschine. Wir haben nach einer Möglichkeit gesucht, auf einfache Weise die Maschinendaten zu erfassen, auszuwerten und die Anlageneffektivität zu verbessern“, nennt Stephan Hofmann, technischer Leiter bei Häfele, die Anforderung (Bild 2).

Die manuelle Erfassung von Störungen und Stillstandszeiten war nicht verlässlich. Das Verfahren sollte automatisiert werden. Die Daten sollten eine Kosten-/Nutzenrechnung ermöglichen und auch Vorgaben für die langfristig geplante Investition in eine neue Maschine liefern. Eine Schnittstelle zur Maschinensteuerung war allerdings nicht verfügbar. Ein Eingriff in die Steuerung oder in die bestehende IT-Infrastruktur sollte ohnehin generell vermieden werden. Die Erfassung und Übertragung wichtiger Maschinendaten musste deshalb unabhängig von der vorhandenen Infrastruktur erfolgen.

IoT per Retrofitting

In der Abkantmaschine wurden fünf Sensoren nachgerüstet. Ein Temperatursensor überwacht jetzt das Hydrauliköl. Auch die Umgebungstemperatur wird erfasst. Ein Beschleunigungssensor registriert die Bewegungen der Maschine und mittels Stromsensoren wird ermittelt, wie viele Werkstücke bewegt und bearbeitet werden. Alle Sensorsignale werden über eine Modbus-Sensor-Box zusammengeführt.

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„Wir hatten vor Ort Entfernungen zur Sensorik von über zehn Meter. Von der Modbox musste aber nur ein Kabel für die Sensordaten und die Stromversorgung verlegt werden. So konnten wir die Installation in einem halben Tag abschließen“, berichtet Rayko Enz, technischer Leiter und Geschäftsführer bei SIC Software. Das Unternehmen ist Engineering-Spezialist und IoT-Systemintegrator.

Die Sensordaten werden von der Modbox an das Edge Computing System Mica von Harting übertragen. Dabei handelt es sich um einen netzwerkfähigen und sicheren Minicomputer. Er ist ebenso wie die Modbus-Box für die raue Industrieumgebung konzipiert. Sie sind gegen Staub, Schock, Vibration und Feuchtigkeit (IP65/67) und außerdem gegen hohe EMV- und Temperaturbelastungen geschützt (Bild 3).

Mica- und Mod-Box-Daten werden vorverarbeitet

„Das Edge Computing System Mica von Harting ist das Schlüsselelement für das IoT-Retrofitting von bereits installierten Maschinen und Anlagen. Es empfängt und verarbeitet die Sensordaten. Die Mica kann von Anwendern durch Applikationen wie Analysefunktionen erweitert werden und leistet eine Vorverarbeitung großer Datenmengen“, nennt Enz eine zentrale Funktion des Edge Gateways. Er hebt die offene Softwarearchitektur der Mica hervor, die sich sehr flexibel und komfortabel durch eigene Software erweitern lässt.

Die Mica arbeitet mit einem Linux-basierten Betriebssystem und virtualisierten Linux-Con­tainern, die mehrere voneinander isoliert laufende Anwendungen ermöglichen. Jeder Anwender oder Projektpartner kann eigene Container entwickeln, die mit dem Basissystem kommunizieren.

SIC hat laut Enz einen solchen Anwendungscontainer für die Vorverarbeitung der Daten entwickelt: „Bei Häfele kommen durch mehrere Sensoren jeden Monat sehr große Datenmengen zusammen. Da ist eine Vorverarbeitung sehr sinnvoll. In einem automatisierten Prozess werden nur die Signale ausgewählt und gespeichert, die wir für die Auswertung benötigen. Der Datenumfang wird auf diese Weise von 2 GByte auf nur noch 120 MByte reduziert. Eine Vorverarbeitung ist auch bei besonders sensiblen Daten sinnvoll, die das eigene Unternehmen nicht verlassen sollen.“

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Für die Vorverarbeitung werden die Sensordaten mit weiteren Metadaten verknüpft. Für diese Metadaten melden die Maschinenbediener auf einem Tablet mit vier Bedienknöpfen, ob eine Störung, eine Wartung, eine Nebentätigkeit oder eine Justage vorliegt. Diese Statusinformationen werden mit den Sensorsignalen verknüpft und automatisiert vorverarbeitet.

Mit der Wireless-Version der Mica werden die Daten schließlich unabhängig von der vorhandenen IT-Infrastruktur bei Häfele per LTE in die Cloud zu Amazon Web Services (AWS) übertragen. In einem automatisierten Prozess werden die Signale herausgefiltert, die für die weitere Auswertung benötigt werden (Bild 4).

Für die Synchronisation mit der Cloud hat SIC mit AWS IoT Greengrass „Cloud-Funktionalität“ in die Mica implementiert. Die Software Greengrass von Amazon Web Services ist als Service speziell für IoT- und Edge-Anwendungen konzipiert worden und sorgt für die nahtlose Integration des Edge Gate­ways Mica in die AWS-Cloud. „Mit AWS IoT Greengrass werden Analyse- und Visualisierungsfunktionen und die Speicherung in der Cloud sehr vereinfacht. Das kann auch Ma­chine-Lear­ning-Modelle oder Prognosefunktionen umfassen. Das funktioniert durch AWS Lambda komplett ohne zusätzliche Administrationsaufgaben. Die Anwender müssen sich also nicht um Webserver, Betriebssysteme, Upgrades oder Patches kümmern“, nennt Fabian Hahn, Solutions Architect bei AWS, die Besonderheiten von Greengrass.

Synchronisation mit der Cloud erfolgt ständig

Zu den wichtigsten Vorteilen von Greengrass zählt Fabian Hahn die ständige Synchronisation der Mica mit der Cloud. Ist das Gateway offline, werden die Daten durch die Softwarefunktion zwischengespeichert. Selbst wenn sich am Status der Applikation etwas ändert, während die Anwendung offline ist, wird dies nach dem Verbindungsaufbau korrekt berücksichtigt.

Außerdem sorgt Greengrass für den verschlüsselten Datenaustausch und für sichere Over-the-Air-Updates. Greengrass übernimmt auch die Datenvorverarbeitung auf der Mica und überträgt nur die benötigten Daten in die Cloud. So können die Datenmengen reduziert und die Übertragungskosten verringert werden.

Zunächst musste dieses Framework allerdings auf der Mica eingerichtet werden. Der SIC-Geschäftsführer nennt anfängliche Inkompatibilitäten zwischen den Container-Technologien von Greengrass und der Mica: „Die Mica ist sehr flexibel aufgebaut und es ist uns gelungen, AWS IoT Greengrass in das Konzept der Mica zu integrieren.“

Die Maschinendaten werden in der Cloud ausgewertet

Die Sensordaten der Abkantmaschine werden jetzt zusammen mit den Statusinformationen (Metadaten) in der Cloud automatisiert ausgewertet. Häfele erhält monatlich eine komprimierte managementtaugliche Übersicht der produktiven Zeiten, der Ausfall- und Störungszeiten, der Nebentätigkeiten und Justagen sowie über die gesamten Einsatzzeiten der Maschine im Abgleich mit den Einsatzplänen. Die Auswertungen liefern auch Zahlen und Fakten für eine Kosten/Nutzen-Rechnung sowie für die Ermittlung von OEE-Kennzahlen. Zusätzlich zeigt ein Live-Dashboard den jeweils aktuellen Zustand der Maschine.

„Das IoT-Retrofitting mit Sensorik, Mica und AWS IoT Greengrass ist für sehr unterschiedliche Auswertungen geeignet. Das Projekt mit der Abkantmaschine von Häfele bestätigt aber auch, dass für sinnvolle Auswertungen zunächst ausreichend Maschinendaten gesammelt werden müssen. So sind in den ersten drei Monaten nur zwei Störungen aufgetreten, was noch keine belastbaren Aussagen zulässt“, so Enz.

Wenn ausreichend Daten vorliegen, könne man die Auswertungen nochmals durch Algorithmen für Machine Learning erweitern. Der Geschäftsführer von SIC Software nennt als Beispiel die Anomalieerkennung, um Abweichungen vom Normalverhalten zu erkennen. Wenn sich solche Anomalien ankündigen, könnten kritische Maschinenzustände oder Störungen frühzeitig vorhergesagt und verhindert werden.

Maschinendaten offenbaren wichtige Erkenntnisse

Stephan Hofmann, der technische Leiter von Häfele, ist mit den ersten Ergebnissen sehr zufrieden: „Das IoT-Retrofitting hat uns einen sehr einfachen Einstieg in die Auswertung von Maschinendaten ermöglicht. Wir haben jetzt erstmals Fakten zum Einsatz und zu möglichen Störfaktoren zur Verfügbarkeit.“

Hofmann denkt unter anderem an die Daten des Beschleunigungssensors. Sie zeigen, dass die großen Vibrationen der Abkantmaschine dazu führen, dass sich die auf einem Gummiblock stehende Maschine während der Blechbearbeitung mehrere Zentimeter bewegt und nachts wieder auf die alte Position zurückkehrt. Durch die Bewegung kann auch die Materialzufuhr unterbrochen werden. Um diese Störquelle genauer zu untersuchen, hat SIC bereits einen zusätzlichen Abstandssensor installiert.

Der Artikel ist ursprünglich auf unserem Partnerportal MM Maschinenmarkt erschienen.

* Martin Ortgies ist Fachjournalist in Hannover.

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