Expertenbeitrag

Prof. Dr. Andreas Syska

Prof. Dr. Andreas Syska

Professor für Produktionsmanagement, Hochschule Niederreihn

Mitarbeiter 4.0 Industrie 4.0: Am Menschen vorbei entwickelt

Autor / Redakteur: Prof. Dr. Andreas Syska / Redaktions Team

Die Protagonisten von Industrie 4.0 betonen unermüdlich, dass bei Industrie 4.0 der Mensch im Mittelpunkt steht, weil man ahnt, dass dies gerne gehört wird. Dass der Mensch von Industrie 4.0 profitieren würde hat aber den Charakter einer hastig verabreichten Pille, die nicht nur das besorgte Publikum, sondern vermutlich auch die Protagonisten selber beruhigen soll.

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Wie sich Industrie 4.0 auf den Mitarbeiter auswirken wird.
Wie sich Industrie 4.0 auf den Mitarbeiter auswirken wird.
(Pixabay)

Die Protagonisten von Industrie 4.0 betonen unermüdlich, dass bei Industrie 4.0 der Mensch im Mittelpunkt steht, weil man ahnt, dass dies gerne gehört wird. Dass der Mensch von Industrie 4.0 profitieren würde hat aber den Charakter einer hastig verabreichten Pille, die nicht nur das besorgte Publikum, sondern vermutlich auch die Protagonisten selber beruhigen soll.

Der Mensch als etwas Defizitäres?

Im Kern wird der Mensch nämlich als etwas Defizitäres erkannt, das an Industrie 4.0 anzupassen ist. Die Diskussion um die Rolle des Mitarbeiters wird also im Wesentlichen auf das Thema „Qualifikationsbedarf“ reduziert. Die Protagonisten von Industrie 4.0 sagen uns, wie der Mitarbeiter arbeiten wird - beschäftigen sich aber nicht mit der Frage, wie er eigentlich arbeiten will und wieso das alles gut für ihn sein soll.

Außerdem wird Bewährtes zerstört. Die Produzenten hierzulande haben in den letzten beiden Jahrzehnten im Zuge von Lean Production unglaublich große Fortschritte gemacht, die Kreativität und die Begeisterungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter, die unmittelbar im Produktionsprozess beschäftigt sind zu aktivieren. Eine wichtige Konsequenz von Lean Production war dabei die Überwindung der bis dahin vorherrschenden Trennung von Denkenden und Ausführenden, wie sie von Ford vorgegeben war. Kein hiesiger Produzent, der diesen Weg gegangen ist, käme im Traum auf die Idee, das Rad zurückzudrehen.

Wohl aber die Protagonisten von Industrie 4.0. Sie unterteilen die Welt wieder in Denkende und Ausführende. Da waren wir schon mal weiter. Denn Mitarbeiter werden nicht eingeladen, an der Gestaltung des Systems „Industrie 4.0“ mitzuwirken. Dies bleibt einer kleinen Gruppe selbsternannter Experten vorbehalten. Und das ist ein beherzter Schritt in die Vergangenheit.
 
Dabei war doch alles so gut gemeint.
 

Die Rolle des Reagierenden

Industrie 4.0 soll die Transparenz des Produktionsgeschehens verbessern und entscheidungsrelevante Informationen schneller zur Verfügung stellen. Davon soll der Facharbeiter profitieren: Er bekommt in Echtzeit die für ihn notwendigen Informationen und nutzt sie im Rahmen seiner Rolle. Seine Position wird gestärkt. Er ist der Dirigent der Wertschöpfungskette.
 
Oder etwa nicht? Nein, denn im Ergebnis sieht man bislang die Mitarbeiter nur in der Rolle des Reagierenden. Überwachung wird gleichgesetzt mit „Reagieren auf die Schwesternklingel“.
Dem Mitarbeiter wird nämlich die Aufgabe zugewiesen, im Ausnahmefall – wie bei einer Prozessstörung – einzugreifen. Und dabei sollen ihm die selbstlernenden Systeme mitteilen können, welche Schritte zur Störungsbehebung notwendig sind. Das System meldet also nicht nur seinen Zustand, sondern zeigt auch, was zu tun ist. Damit wird der Mitarbeiter zum Ausführenden von Maschinenbefehlen. Problemlösungskompetenz wird nicht mehr gefragt sein.
 
Den Mitarbeiter in der Produktion wird es weiterhin geben – nur muss er sich daran gewöhnen, auf optische und akustische Signale von technischen Systemen zu reagieren und vorbestimmte Handlungsmuster auszuführen. Das kann ja im Sinne des Produktionsprozesses durchaus richtig sein. Nur sollte man nicht davon sprechen, dass die Rolle des Mitarbeiters durch Industrie 4.0 aufgewertet würde.
 
Wenn darüber hinaus die Vorhersagen eintreffen, wonach sich das Material seinen Weg eigenständig durch die Produktion bahnt, dispositive Entscheidungen trifft und Ressourcen anfordert, so wird der Mitarbeiter endgültig zum Objekt. Er muss sich an die Vorstellung gewöhnen, dass das Werkstück bestimmt, was er wann und wo zu tun hat. Die Aufgaben des Vorgesetzten übernimmt dann das Material, das bearbeitet werden möchte. Ein seltsames Verständnis von Dirigententum.
 
Aber vielleicht sind ja mit der Bezeichnung „Dirigent“ ganz andere Menschen gemeint. Nicht die Mitarbeiter auf dem Shop-Floor, sondern die Ingenieure. Hier hat Industrie 4.0 in der Tat viele Freunde, geht es schließlich doch um ein echtes Technikthema, bei dem der Ingenieur endlich wieder Ingenieur sein darf. Maschinenelemente, Hardware und Software werden miteinander verbunden; der große technische Wurf wird gemacht.
 
Wie unendlich groß muss da die Erleichterung bei denen sein, die sich mit Shop-Floor Management, Kaizen und Kata und den ganzen „Räucherstäbchenrunden“ nie haben anfreunden wollen. Begeistert sind auch all diejenigen, die Betriebsführung mit der Gestaltung von technischen Systemen verwechseln und lieber mit Technik als mit Menschen zu tun haben. An dieser Stelle sind viele Maschinenbau- und Softwareingenieure Brüder im Geiste und erfreuen sich gemeinsam an den technischen Möglichkeiten.
 
Auf den Punkt gebracht: Industrie 4.0 ermöglicht den Führungsschwachen die langersehnte Flucht vor ihren eigenen Mitarbeitern.
 
Und genau jene sind gemeint, wenn von Dirigenten der Wertschöpfungskette die Rede ist. Denn sie sind ja schließlich die Schöpfer und Meister dieses Systems. Doch deren Freude ist verfrüht: da diese Systeme ja selbstlernend angelegt sind, werden sie sich bald selber konfigurieren können. Die Dirigenten können nach Hause gehen, weil die Orchester sie nicht mehr brauchen. Diese Menschen arbeiten mit Hochdruck und Begeisterung an genau den Systemen, die sie selber eines Tages überflüssig machen – und niemanden scheint es zu stören.
 
Dabei hätte man mit der hinter Industrie 4.0 stehenden Technologie die historische Chance, dafür zu sorgen, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Industrie nicht mehr disponibler Produktionsfaktor – auf einer Stufe mit Material und Maschinen – und Mittel zum Zweck ist, sondern dass die Fabrik erstmals nach seinen Bedürfnissen gestaltet wird und dass Produktion und Wertschöpfung auch ein Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung ist.
 
Das wäre ein echter Beleg dafür, dass hier wirklich Revolutionäres geschieht. Tut es aber nicht – und deswegen hört man hier auch nichts Entsprechendes.
 
Industrie 4.0 wird in dieser Form unter anderem auch deswegen scheitern, weil sie am Menschen vorbeientwickelt wird und ihm die Rolle des passiv Ausführenden zuweist, statt ihn – wie heute üblich – an der Gestaltung der Arbeitsprozesse zu beteiligen.