Digitale Transformation How to play Innovation

Redakteur: Jürgen Schreier

Branchenerfahrung und gutes Bauchgefühl – kürzlich noch entscheidende Erfolgsfaktoren – verlieren angesichts des rasanten technologischen Wandels ihre Bedeutung. Auf dem Boma Summit sprachen wir mit Salim Ismail über Tellerränder, Stoffwechsel und „dienende“ CEOs.

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Wie wechselt man das Mindset? China ist in der Lage, altes Denken – quasi auf Knopfdruck – zu überspringen und direkt zu einem völlig neuen Modell überzugehen. Europa hingegen befindet sich in der weltweit schwierigsten Situation.
Wie wechselt man das Mindset? China ist in der Lage, altes Denken – quasi auf Knopfdruck – zu überspringen und direkt zu einem völlig neuen Modell überzugehen. Europa hingegen befindet sich in der weltweit schwierigsten Situation.
(Bild: gemeinfrei / Pixabay )

Salim Ismail ist Angel Investor, Gründer und weltweit gefragter Technologie-Stratege. 2008 wurde er Gründungsdirektor der Singularity University, die sich im NASA Research Park zusammen mit Partnern wie Google, Nokia, Autodesk und weiteren der Lösung globaler Probleme mittels technologischem Fortschritt verschrieben hatte. Er ist außerdem Autor des Bestsellers „Exponential Organizations.

Herr Ismail, Sie haben weltweit zahlreiche Transformationsprojekte in unterschiedlichen Branchen initiiert und begleitet. Wo erkennen Sie die größten Schwierigkeiten?

Es gibt zwei enorme Herausforderungen. An erster Stelle steht das Bewusstsein, dass sich unsere Welt schnell verändert – weil sich die Technologien mit exponentieller Geschwindigkeit entwickeln. Daraus abgeleitet muss die Erkenntnis folgen, dass zwar die Technologie schneller wird, Unternehmen aber nicht: Unsere Management-Boards blicken auf teils über 30 Jahre Erfahrung in bestehenden Sektoren zurück, was sie aber auch in „alten“ Denkmustern verhaften lässt. Früher waren Intuition und Erfahrung entscheidende Erfolgsfaktoren, aber heute müssen Organisationen nach außen treten. Und wie wir aus Clayton Christensens „The Innovator's Dilemma“ wissen: In Phasen der Disruption schaffen es „Amtsinhaber“ selten auf die andere Seite.

Wie schlägt sich Europa im internationalen Vergleich?

Europa befindet sich in der wahrscheinlich schwierigsten Situation: China zum Beispiel ist in der Lage, altes Denken – quasi auf Knopfdruck – zu überspringen und direkt zu einem völlig neuen Modell überzugehen. In den USA sind die Menschen flexibler und nicht zuletzt spielen die Angestelltenverhältnisse den Arbeitgebern in die Karten. Wenn Volkswagen hier ein Werk schließen will, muss es sich zunächst mit Gewerkschaften einigen, Genehmigungen von Behörden einholen usw. Europäische Unternehmen sind in Ihrer Agilität stark eingeschränkt.

Wie etabliert man „neues Denken“ in der Organisation, so dass greifbare Innovation entsteht?

In einer idealen Welt übernehmen alle die Perspektive des CEO: „Wo droht unserem Unternehmen Disruption?“ Hierfür gibt es verprobte Methodiken, wie auch unsere ExO-Sprint-Methodik: Sie hilft Unternehmen, Sensibilität für Bedrohungsszenarien zu entwickeln und die Unternehmenskultur bei allen Mitarbeitern dementsprechend zu ändern. Sie ist im übrigen frei zugänglich.

Ich denke, die spannendere Frage ist, wie man Disruption oder Innovation von einer „gesunden“ wirtschaftlichen Lage aus adressiert – meist wird direkt gekontert: „Das wird nie passieren“, oder aus Branchen-Perspektive: „Die Menschen werden immer ihr eigenes Auto haben wollen.“ Das ist ein Teil des Dilemmas. Ein weiterer Faktor ist die Unfähigkeit, über den Tellerrand hinausschauen zu können – hier ein Beispiel: Ich habe mich vor ein paar Jahren mit dem Hamburger Bürgermeister unterhalten: „Ein riesiger Prozentsatz des weltweiten Schiffsverkehrs läuft über meinen Hafen. Das kann man nicht so einfach disruptieren.“ Ich habe ihm die Rechnung auf der Rückseite eines Umschlags eröffnet: Die Traglast von Drohnen beträgt aktuell circa eine Tonne verdoppelt sich alle neun Monate. Innerhalb von nur drei Perioden, also 27 Monaten können vier Drohnen einen durchschnittlichen Container aufnehmen und ihn direkt vom Schiff auf einen Lastwagen oder Zug fliegen. Der Hafen muss also um seine Existenzberechtigung bangen, und damit Hamburg um einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor – und das angesichts eines Ereignishorizonts von weniger als drei Jahren. Da hilft auch keine deutsche Ingenieurskunst.

Zusätzliches Potenzial für existenzbedrohende Szenarien ergibt sich aus der zunehmenden Demonetarisierung, auch hier ein Beispiel: Ich war mit meinem Tesla 2500 Kilometer von Miami nach Toronto gefahren, ungefähr ein Drittel der Strecke fuhr der Wagen alleine. 18 Monate später fuhr ich zurück. Das selbe Auto, nur dass es jetzt – dank besserer Software, besserer Analysen, mehr Nutzern, die die Straße kartografiert hatten – bereits zu 80 Prozent selbst fuhr. Faszinierend an sich, aber noch wichtiger: Ich reiste gefühlt in einem Erste-Klasse Zugabteil, und da die Ladestationen kostenlos sind, kostete mich die gesamte Fahrt nichts. Das Beispiel veranschaulicht das Problem der etablierten Industrie, denn reibt sich nach wie vor verwundert die Augen und fragt nach den Einnahmen, schließlich ist gegen „kostenlos“ schwer anzutreten, analog dem Dilemma der Musikindustrie und dem Streaming-Modell. Es geht also nicht nur um das Innovationsdilemma, sondern auch um eine immer datengetriebenere Welt, aus der eine enorme Demonetarisierung folgt. Das stellt viele Geschäftsmodelle vor ungeahnte Probleme, ist aber gleichzeitig auch eine riesige Chance für kleinere und mittlere Unternehmen.

Wie muss ich meine Organisation aufstellen, um in der Lage zu sein, derartige Umwälzungen als Chancen zu nutzen?

In jedem - auch traditionellen - Unternehmen findet man unter den Mitarbeitern etwa fünf Prozent, die als völlig verrückt, fast unkontrollierbar gelten, tatsächlich aber sehr klug und höchst loyal dem Unternehmen gegenüber sind. Man kann sie natürlich beiseite nehmen und sie „spielen und innovativ sein lassen“. Das ist ein Ansatz, aber ich würde mich trotzdem nicht ausschließlich auf sie verlassen.

Ein weiterer Ansatz ist, sich nach anderen Entwicklungsumgebungen umzusehen, beispielsweise der H-Farm, einem Inkubator außerhalb Venedigs. Dort wohnen in wechselnder Besetzung rund 500 Unternehmer, z. B. Porsche oder die ING Bank besuchen die Farm, wenn sie ein Kundenproblem lösen oder eine Innovation vorantreiben wollen. Die „Bewohner“ treten dann mit Lösungsansätzen gegeneinander an, das Unternehmen finanziert später die beste Idee. Der „Kreative Wahnsinn“ würde also ausgelagert, was im Übrigen auch hilft, auf globalerer Bühne Augen und Ohren zu haben. So entstehen sowohl die nötige Diversität als auch die Geschwindigkeit, von der die meisten nur reden. Denn egal, wer Sie sind: Die klügsten Leute arbeiten nicht für Sie.

Worauf müssen sich CEOs konzentrieren und welche Fähigkeiten müssen sie in der zweiten Führungsebene installieren?

Ich sehe drei absolut unverzichtbare Fähigkeiten: Die erste ist, einen sehr starken und motivierenden „Purpose“ zu formulieren, der allen Mitarbeitern grundsätzliche Orientierung bietet: Warum existiere ich und welches Problem versuche ich zu lösen?

Die zweite ist das, was ich „servant leadership“ nenne: Befehl und Gehorsam muss durch aktives Zuhören ersetzt werden. Der CEO steht im Dienste des Potenzials von Teams und Unternehmen, insbesondere wenn es um Ideen „von unten“ geht. Er muss einen Weg schaffen und aufbauen, um sie an die Oberfläche und schließlich auf den Markt zu bringen.

Schließlich und drittens müssen die CEOs erkennen, dass die Welt jetzt auf der Grundlage von Verdopplungsmustern und informationsbasierten Paradigmen operiert. Sie sollten also nicht versuchen, den noch besseren Motor zu bauen, sondern das Mobilitätsproblem zu lösen.

Ihre letzten Worte an unsere Leser?

Gehen Sie davon aus, dass Sie der Disruption zum Opfer fallen. Initiieren Sie selbst disruptive Ideen an der Peripherie Ihres Unternehmens. Erhöhen Sie den „Stoffwechsel“ in Ihrer Kernorganisation.

Das Interview führte Philipp Uhl, leitender Redakteur bei Next Industry.

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