Forschung Digitaler Zwilling: Ein Herzensprojekt

Lisa Marie Waschbusch

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Inmitten der Medizin der Zukunft existiert auch ein Patient der Zukunft – und dieser ist nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern ein individuell angepasstes, virtuelles Computermodell. Das Konzept hinter diesem Modell trägt den Namen „Digitaler Zwilling“ und wird aktuell von der Uniklink Heidelberg, gemeinsam mit Siemens Healthineers, vorangetrieben.

Der digitale Herzzwilling von Siemens Healthineers.
Der digitale Herzzwilling von Siemens Healthineers.
(Bild: Siemens Healthineers)

Wenn Benjamin Meder sich die Medizin der Zukunft vorstellt, dann spielen digitale Helfer und Künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle. Er wünscht sich, dass Patienten besser in ihre Behandlung einbezogen werden, dass administrative und repetitive Aufgaben automatisch von Computern erledigt werden. Und, dass sich Ärzte gänzlich um ihre Patienten und deren Behandlung kümmern können. Und zwar um jeden Einzelnen, ganz individuell.

Es ist der Traum einer personalisierten Medizin, den Meder und seine Kollegen in der Heidelberger Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie vor Augen haben. Eine Art der Medizin, bei der eine Erkrankung nicht verallgemeinert, sondern der individuelle Krankheitsverlauf eines Patienten berücksichtigt wird. All das verspricht man sich vom Konzept des digitalen Zwillings, auch ein Kernkonzept der „Industrie 4.0“. Hierbei werden reale Objekte mithilfe von großen Datensätzen und Algorithmen in die virtuelle Welt übertragen. Diese Übertragung erfolgt in zwei Schritten: Zuerst trainiert man künstliche neuronale Netze anhand von Millionen Datensätzen, im nächsten Schritt werden diese Netze verwendet, um einzelne Daten in ein gesamtheitliches realitätsnahes Modell zu kombinieren. In der Medizin bildet der digitale Zwilling das physiologische System eines menschlichen Organs ab.

Der digitale Herz-Klon

Benjamin Meders digitaler Zwilling: das menschliche Herz. Der Kardiologe testet in Kollaboration mit den Erlanger Medizintechnikspezialisten von Siemens Healthineers im klinischen Umfeld, wie Herzinsuffizienz-Patienten von dem Konzept des digitalen Zwillings profitieren können. Von besonderem Interesse für Meders Forschungsprojekt ist, inwieweit die Personen womöglich ein erhöhtes Risiko zur Erkrankung mitbringen. „Durch den Einsatz von Risikomodellen wissen wir heute, dass beispielsweise die Bestimmung des hochsensitiven Troponins oder der Ejektionsfraktion der linken Herzkammer bereits sehr viel über das Krankheitsrisiko einer Person aussagen“, erklärt Meder.

In der Vergangenheit zeigte sich allerdings, dass diese „starke Vereinfachung auf wenige Variablen“ bei Erkrankungen wie der Herzschwäche im Einzelfall zu wenige Erkenntnisse über die richtige Art der Therapie gibt. Zwar könne man, so Meder, den Computer-generierten Zwilling bislang noch nicht mit eineiigen Zwillingen vergleichen, dies sei aber auch nicht notwendig. „Wir wollen die wesentlichen Charakteristika einer Erkrankung verstehen und dann simulieren.“ Denn jedes Herz sieht anders aus, wie Gesichter eben auch.

Ein langer Weg

Doch der Preis für die individualisierte Medizin ist auch ein erhöhter Aufwand. In der Vergangenheit haben andere Forschungsprojekte bereits zukunftsträchtige Ansätze verfolgt, um die Medizin ins digitale Zeitalter zu befördern. Im Zuge des „Living Heart“-Projektes arbeitet der französische Softwareentwickler Dassault Systèmes bereits seit 2013 an einem digitalen, allerdings noch nicht personalisierten Herz. Im Mittelpunkt des Projektes, so hieß es seitens Dassault Systèmes zu Beginn, stehe das erste realistische 3D-Simulationsmodell eines vollständigen menschlichen Herzens. Es ist mit den Simulationsanwendungen der 3D-Experience-Plattform des Softwareanbieters entwickelt worden.

Mittlerweile ist das Projekt auf mehr als 95 Mitgliedsorganisationen weltweit angewachsen, darunter medizinische Forscher, Ärzte, Gerätehersteller und Zulassungsbehörden. Seit Ende 2017 ist das „Living Heart“ jetzt über die 3D-Experience-Plattform in der Cloud verfügbar. Den Kern des Projektes bildet ein Modellherz, genauer gesagt ein Modell des Herzens eines 35-jährigen, gesunden Mannes. Es ist anpassungsfähig, modifizier- und erweiterbar, um es bestimmten Krankheitszuständen oder Behandlungsmethoden anzupassen. Dassault Systèmes entwickelt das Konzept weiter, beispielsweise für andere Altersgruppen, für verschiedene Krankheitszustände und Geschlechter.

Personalisierte Medizin: Das Angebot zur Nachfrage

Wird der digitale Herzzwilling für die breite Masse verfügbar, könnte er vielen Patienten helfen: Angaben des Kompetenznetz Herzinsuffizienz zufolge leiden in Deutschland zwei bis drei Millionen Menschen an einer Herzschwäche. Wie aus dem Deutschen Herzbericht 2018 hervorgeht, ist die Sterblichkeit durch Herzkrankheiten in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr insgesamt zwar gesunken, allerdings sterben jährlich noch immer 338.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 2016 alleine mehr als 40.000 an einer Herzinsuffizienz. Diese zählt laut Herzbericht zu den häufigsten Diagnosen, die zu einer stationären Behandlung führen. Um Herzinsuffizienz zu diagnostizieren sind diverse klinische Untersuchungen nötig: ein Elektrokardiogramm (EKG), eine hochauflösende Magnetresonanztomographie (MRT) und einige Laborwerte. Bei manchen Patienten ist zur Einordnung der Beschwerden auch ein Herzkatheter notwendig.

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Mittels der intelligenten Algorithmen von Siemens Healthineers und der Uniklinik Heidelberg erproben Meder und sein Team aktuell eine Möglichkeit der Resynchronisation des Herzens. Leidet ein Patient an einer Herzschwäche mit dyssynchronem Herzschlag, setzen Ärzte heute auf die sogenannte kardiale Resynchronisationstherapie. Hierbei werden insgesamt drei Elektroden im Herzen platziert: einer im rechten Vorhof, die beiden anderen in der rechten und an der linken Herzkammer. Durch die elektrische Stimulation der beiden Herzkammern wird das Zusammenspiel beider wieder hergestellt und das Blut kann besser weitergepumpt werden. Die Heidelberger Kardiologen setzen in ihrem Forschungsprojekt diese Elektroden statt bei dem realen Patienten am virtuellen Abbild dessen an. Harmoniert sich das asynchrone Pumpen am virtuellen Herzen, ist es wahrscheinlich, dass die Therapie auch am realen Patienten erfolgreich sein könnte, so die Hypothese der Forscher.

„Ich schätze die Resonanz der Technologie sehr hoch ein, da der digitale Zwilling Schäden an meiner Person zu vermeiden hilft“, so Meder. Das bestätigen auch die Ergebnisse einer im Oktober 2018 durchgeführten Studie des Beratungsunternehmens PwC, bei der 1.000 Bundesbürger (Nicht-Diabetiker) sowie zusätzlich 203 Diabetiker befragt wurden. Demnach erkennen drei Viertel der Deutschen im Konzept des digitalen Zwillings, bei dem das virtuelle Abbild des menschlichen Körpers auf Basis seiner DNA erstellt werden könnte, einen innovativen Ansatz für die medizinische Versorgung der Zukunft. 71 Prozent der Befragten halten die Technologie für sinnvoll, immerhin jeder zehnte Bundesbürger würde sich laut der Studie, ohne konkreten Anlass, auf diese Weise virtuell abbilden lassen. Die Befragten rechnen mit Vorteilen für den Patienten, vor allem bei der Unterstützung des Arztes bei Therapieentscheidungen (86 Prozent), bei der Wahl des besten Medikamentes (83 Prozent), bei der Verringerung des Risikos für Nebenwirkungen und unnötige Operationen (82 Prozent), sowie bei genaueren und schnelleren Diagnosen und Therapien (80 Prozent).

Effizienzsteigerung durch Datenmedizin

Nicht nur in Deutschland arbeitet man auf Hochtouren an zukunftsträchtigen Medizintechnologien. Auch im Silicon Valley ist diesbezüglich viel los: Aus einem Bericht von Spiegel Online aus dem vergangenen Jahr geht hervor, dass beispielsweise Google-Tochter Verily große Pläne einer Datenmedizin verfolgt. So wolle man bei Verily „eine datenbasierte, ´proaktive Medizin´ schaffen, in der Maschinen fast rund um die Uhr mit biologischen Informationen gefüttert werden und kluge Software nach Anzeichen von Krankheit sucht“. Hier ist auch von einem „digitalen Phänotyp“ die Rede, der auf Basis von Körpersensoren mit Daten gefüttert und am Ende als „global zugängliche Gesundheitsanalyse-Maschine“ von Krankenhäusern, Pharmafirmen und Ärzten gleichermaßen genutzt wird.

Prof. Dr. med. Benjamin Meder ist Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie im Universitätsklinikum Heidelberg.
Prof. Dr. med. Benjamin Meder ist Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie im Universitätsklinikum Heidelberg.
(Bild: Universitätsklinikum Heidelberg)

Benjamin Meder beurteilt Googles Vorhaben erst einmal nicht als Bedrohung: „Google macht, was es am besten kann, nämlich mit großen Datenmengen umgehen und Informationen, nach denen gesucht wird, zu extrahieren. Wenn sie in Zukunft damit die Gesundheit verbessern können und sich an die Regeln unserer Gesellschaft halten, ist das per se nichts Schlechtes.“ Auch in Europa habe man mit Novartis, Roche, Bayer usw. andere privatwirtschaftliche Unternehmen, die von großer Bedeutung für unsere Gesundheit sind. „Insbesondere in Deutschlands Krankenhäusern schenkt man Software- und Datenanalytik eine zu geringe finanzielle Aufmerksamkeit, wodurch viel Effizienz und mögliche Therapieoptimierungen verloren gehen“, findet Meder.

Keine Personalisierung ohne personalisierte Daten

Doch die Deutschen haben Angst um ihre Daten. Das ist auch der Grund, warum sich bislang 17 Prozent der Bundesbürger nicht vorstellen könnten, ein digitales Abbild ihres Körpers erstellen zu lassen. Zu groß ist die Angst, Opfer von Datenmissbrauch zu werden, insbesondere, wenn es um derartig sensible Daten, wie die der Gesundheit, geht. Für mehr als ein Drittel der Deutschen wäre sogar die Voraussetzung für die Erstellung ihres digitalen Zwillings, dass ausschließlich die behandelnden Ärzte die Daten einsehen können. Der Zugriff auf die Daten soll den Ärzten oder Patienten selbst vorbehalten sein und nicht den Krankenkassen oder gar der Pharmaindustrie.

Doch ohne personalisierte Daten keine personalisierte Medizin: Denn es sind genau diese, mit denen die Erstellung des digitalen Zwillings und der Einsatz Künstlicher Intelligenz überhaupt erst ermöglicht wird. Sie könnten früher oder später auch über den Erfolg eines solchen Konzeptes entscheiden. „Selbst wenn im Prinzip ein derartiges technologisches Konzept in der klinischen Routine, aufgrund von wissenschaftlichen Papieren, ein Ergebnis zeigt, nämlich dass der Therapieerfolg positiv ausfällt und es zu einer Risikominimierung kommen kann, bleibt die Grundvoraussetzung für den Erfolg das Vorhandensein der richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt“, ist sich Jörg Aumüller, Leiter Digitalizing Healthcare von Siemens Healthineers, sicher.

Der smarte Ausweg aus dem Datenschutz-Dilemma

In der Uniklinik Heidelberg versucht man indes, die Daten „smart“ zu halten, indem hoher Wert auf die Qualität der Erhebung und die richtige Auswahl der Fälle gelegt wird. Dabei werden die Daten im Rahmen einer Studie nur erhoben, wenn der Patient zustimmt. Ist der Prototyp erfolgreich an kleineren Kollektiven getestet, müssen größere Studien mit mehreren Hundert oder gar Tausend Patienten folgen.

Bisher kann Meder noch keine Aussagen über Erfolge und Misserfolge in der Vorhersage von Therapieeffekten liefern, dafür sei es noch zu früh. Auch zu den Kosten einer derartigen Form der personalisierten Medizin lässt sich zum heutigen Zeitpunkt noch wenig sagen. „Bei medizinischer Innovation wird es immer eine Phase geben, bei der die Kosten einer neuen Methode über Standardverfahren liegt“, erklärt Meder. Gleichwohl ziele man darauf ab, unnötige Therapieversuche zu reduzieren und dadurch neben Komplikationen natürlich auch Kosten einzusparen. Siemens Healthineers ist der Überzeugung, dass es sich bei der Erstellung des digitalen Zwillings nicht zwangsläufig um einen Prozess der Neuerstellung handeln muss. „Die Daten, die für den digitalen Zwilling erhoben werden müssen, werden in den meisten Fällen ohnehin erhoben – sei es zur Abklärung der Vorsituation vor einer Intervention in Form einer Computertomografie, Ultraschall- oder Kernspintomografieaufnahme“, so Aumüller.

Der digitale Mensch

Nach dem Abbild des menschlichen Herzens arbeitet Siemens Healthineers schon am nächsten Organ – der menschlichen Leber. Und damit nicht genug, sie verfolgen eine ambitionierte Vision: Eines Tages sollen digitale Zwillinge des gesamten Körpers eines jeden einzelnen Patienten zur Verfügung stehen. Sie sollen Zell-, Molekül- und genetische Informationen enthalten, durch Wearables oder Smart Watches kontinuierlich Daten liefern und sogar gesundheitliche Probleme identifizieren können, noch bevor sie überhaupt klinisch erkennbar wären.

Schon heute ist der digitale Zwilling in anderen Branchen längst keine Innovation mehr. In der Industrie spiegelt er das Abbild einer Maschine oder Fabrik wieder, er begleitet den kompletten Entwicklungs-, Produktions- und Betriebszyklus eines Produktes oder Services. Im Gesundheitswesen ist all das bislang noch Zukunftsmusik. Aber wird der digitale Zwilling auch hier Realität, könnte er womöglich irgendwann über Leben und Tod entscheiden.

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