Medizin 4.0 Digitale Revolution in der Medizin: Stand der Technik und Ausblick
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Die digitale Revolution der Medizin ist in vollem Gange – mit nahezu unbegrenzten technischen Möglichkeiten. Doch Augmented Reality, Internet of Things, Künstliche Intelligenz und Co gibt es nicht zum Nulltarif. Die Frage ist: Sind wir bereit fürs Krankenhaus 4.0?

- Wird die Gesundheitspolitik die Digitalisierung voranbringen?
- AR und VR: Zukunftsweisende Darstellung von Datensätzen
- Digitalisierung überrollt das SGB V
Die gute Nachricht zuerst: Technisch gesehen stehen zahlreiche Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung zur Verfügung. Doch die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen erschweren deren Umsetzung in konkrete Anwendungen zum Nutzen der Patienten. Zu den am häufigsten genannten Hemmnissen zählen fehlende Infrastruktur, komplizierte Zulassungsverfahren, unzureichende Vergütungsregelungen und die hohen regulatorischen Anforderungen. Wenngleich den Verantwortlichen in Politik und Behörden allgemein erkennbarer Wille zur Gestaltung bescheinigt wird, bleibt enormer Handlungsbedarf.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn glaubt an E-Health
Ungeachtet dessen verwies Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch bei der Eröffnung des diesjährigen Hauptstadtkongress im Juni darauf, dass E-Health-Entwicklungen unaufhaltsam auf dem Vormarsch seien. Der Blick auf digitale Innovationen in der Medizin war das zentrale Thema auf dem Hauptstadtkongress Gesundheit und Medizin, zu dem dieses Jahr rund 8.400 Entscheider aus dem deutschen Gesundheitswesen in Berlin zusammengekommen sind. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Diskussionen um das Gelingen der Telematikinfrastruktur betonte Spahn, dass es ein wichtiges Anliegen seiner Gesundheitspolitik sei, digitalen Innovationen den Zugang zum System zu ermöglichen. Der Aufbau der Telematikinfrastruktur würde wie geplant fortgesetzt. Gleichwohl bleiben Zweifel, ob dieser Aufbau zeitgerecht gelingen wird.
Ohne moderne Telematikinfrastruktur gibt es keinen Fortschritt
„Wir tun uns schwer mit Paragraf 291a des Sozialgesetzbuches V zur elektronischen Gesundheitskarte“, beklagt in diesem Zusammenhang Frank Ulrich Montgomery als Präsident der Bundesärztekammer die gesetzliche Grundlage zur elektronischen Gesundheitskarte und Telematikinfrastruktur. Die Probleme mit der Selbstverwaltung beim Thema Digitalisierung sind derweil nicht neu. Der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt wirft Montgomery zentrale Fehler vor. Schmidt habe das im Jahr 2004 verabschiedete Gesetz zu einem „Machtinstrument“ von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken gemacht, ist dazu unter www.medizintechnologie.de zu lesen, einer Informationsplattform auf Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), deren Ziel es ist, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen der Medizintechnikbranche im Innovationsprozess zu unterstützen. „Die haben sich zwölf Jahre um die Macht gekloppt und eine Milliarde Euro ausgegeben, anstatt ein vernünftiges System zu entwickeln“, findet Montgomery hier deutliche Worte. Es sei dringend notwendig, aus diesem Machtgerangel um die Entwicklung der digitalen Infrastruktur für das Gesundheitswesen herauszukommen. Dem Bürger gehörten seine Daten. „Wir brauchen dafür vernünftige Speicherorte und vernünftige Zugänge – vom Versicherten selber gesteuert.“ Das führt zu einem weiteren infrastrukturellen Problem: die flächendeckende Internetversorgung mit 50 Mbit/s bis Ende 2018. Hier dürften die Zweifler Recht behalten, dass das nicht gelingt.
Anlässlich des Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2018 benennt Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery die Perspektiven der Digitalisierung. Zum Video
20 Milliarden vernetzte Medizingeräte bis 2020
Doch schauen wir nach vorne statt zurück. Die Medizinforschung konnte in den vergangenen Jahren zahlreiche vielversprechende neue Technologien vorlegen – weit über vernetzte Geräte hinaus. Das Marktforschungsunternehmen Gartner erwartet daher weltweit 20 Milliarden vernetzte Geräte bis 2020.
Technischer Hintergrund: Smarte Medizingeräte zeichnen sich durch ihre Fähigkeit zur Kommunikation aus. Dabei spielen Sensoren eine wichtige Rolle: Sie können bei der Versorgung von Patienten im Krankenhaus helfen, indem sie Informationen über deren Zustand bereitstellen. Zur Identifikation von Patienten, Medikamenten und medizinischen Geräten kommen RFID-Chips zum Einsatz, um die Gefahr von Verwechslungen zu minimieren.
Vernetzte Systeme werden in Krankenhäusern häufig auch zur Wartung eingesetzt. Dadurch verspricht man sich eine frühzeitige Alarmierung bei Problemen mit Medizingeräten, um Maßnahmen einleiten zu können, bevor es zum Ausfall kommt. Hierbei lassen sich mithilfe von Augmented Reality (AR) reale Welt und digitale Welt verbinden.
Augmented Reality hilft Chirurgen im OP
Durch diese Form der Mensch-Computer-Interaktion ergeben sich aber auch neue Möglichkeiten, in denen medizinische Geräte assistieren können: AR-Anwendungen unterstützen Chirurgen im OP, indem sie Informationen auf die Datenbrille projizieren. Vorteil: Der Arzt muss seinen Blick nicht mehr dem Monitor zuwenden, sondern kann seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Patienten widmen. In vorwärts gerichteten Krankenhäusern sind vernetzte Geräte mittlerweile längst keine Seltenheit mehr. Auch in der Ausbildung und Forschung hat AR enormes Potenzial. Komplexe Eingriffe lassen sich damit realitätsnah simulieren und üben.
Im Rahmen des Forschungsprojekts Holo-Med hat die User Interface Design GmbH beispielsweise eine AR-Anwendung entwickelt, die Neurochirurgen bei Ventrikelpunktionen unterstützt. Dabei sollen Mediziner während einer Operation virtuelle Informationen wie CT- oder MRT-Bilder zur Verfügung gestellt bekommen. Diese werden passgenau über den Körper des Patienten eingeblendet, um den Arzt bei der Lokalisierung der Ventrikel im Gehirn zu unterstützen und die OP dadurch effizienter und sicherer zu gestalten.
Virtual-Reality-Brillen zeigen anatomische Strukturen in 3D
So genannte Virtual-Reality-Brillen (VR) versetzen ihre Träger also in einen dreidimensionalen Raum und erlauben diesen somit anatomische Strukturen aus sämtlichen Perspektiven in 3D zu betrachten. Ein erstmalig im Bereich der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) durchgeführter Versuch wurde im Juni auf dem 68. Jahreskongress der DGMKG in Dresden vorgestellt. Ein Forscherteam der RWTH und FH Aachen präsentierte erstmals im Bereich der MKG-Chirurgie die Betrachtung der 3D-Bildgebung mittels VR-Brille anhand eines exemplarisch ausgewählten, stark verlagerten Kiefergelenksbruchs. Dabei analysierten die Experten die Vor- und Nachteile einer 3D-Betrachtung und der Möglichkeit „in den Situs hinein zu gehen“. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass eine genaue präoperative Planung und Darstellung hilft, Operationen zu vereinfachen und dem Operateur vor dem Eingriff eine gute Vorstellung der Situation zu geben. Neben dem Einsatz in der fachärztlichen Ausbildung stelle diese Technik insbesondere in der studentischen Lehre ein erfolgversprechendes innovatives Medium dar. Es zeige sich aber auch, dass mit zunehmender klinischer Erfahrung der Nutzen für die Operateure abnimmt. Dennoch geht man davon aus, dass die präoperative Betrachtung mittels VR-Brille grundsätzlich künftig helfen kann, den Operationssitus besser zu verstehen sowie die Ergebnisqualität zu optimieren.
Deep-Learning-Algorithmen sind im Kommen
Einen anderen Ansatz verfolgenDeep-Learning-Algorithmen. Zwar ist es noch Zukunftsmusik, dass uns Dr. Algorithmus sagt, welche Krankheit wir haben, aber künstliche neuronale Netzwerke sind schon seit Jahren Gegenstand der medizinischen Forschung. Dabei bietet Deep Learning enormes Potenzial im Bereich Bilderkennung oder bei der Früherkennung von Krebs und Alzheimer. Unlängst berichteten Medien über eine künstliche Intelligenz von Googles Schwester Deepmind, die mehr als 50 Augenkrankheiten auf 3D-Scans genauso gut wie ein Arzt erkennen soll. Die Erkennungsquote liege bei über 94 Prozent und damit im gleichen Bereich wie ärztliche Auswertungen, so die Wissenschaftler. Bereits Anfang des Jahres hatte die Alphabet-Tochter Verily Life Sciences die Entwicklung eines auf künstlicher Intelligenz basierenden Algorithmus bekanntgegeben, der Herzerkrankungen bei einem Menschen vorhersagen soll, noch bevor Krankheitssymptome aufgetreten sind. Die Grundlage dafür sollen Scans des Augenhintergrundes sein, der mit seinen Blutgefäßen auf den körperlichen Gesamtzustand eines Menschen schließen lässt. Auf Basis der Scans analysiert der Algorithmus das Risiko einer möglichen Herzerkrankung – mit ähnlich hoher, aber wesentlich schnellerer Genauigkeit als Bluttests.
Dem Internet of Medical Things vertrauen und Akzeptanz schenken
Doch wo Geräte über das Internet miteinander vernetzt sind oder Technologien wie künstliche Intelligenz eingesetzt werden, bieten sich auch Angriffsflächen für Cyberattacken. Daher unterliegen die Systeme vernetzter Medizingeräte dem Medizinproduktegesetz und müssen hohe Sicherheits- und Qualitätsauflagen erfüllen, um überhaupt zugelassen zu werden. Schwachstellen wie eine mangelhafte oder fehlerhafte Soft- bzw. Firmware sind schlicht und ergreifend absolut tabu. Hier muss Sicherheit an allererster Stelle stehen. Das ist leider nicht immer so. Ein bekannter Fall, bei dem sich Hacker leicht Zugriff auf medizinische Utensilien hätten verschaffen können, betraf Infusionspumpen. Hier stellte man 2015 gravierende Sicherheitslücken fest, sodass ein Hacker die verabreichte Dosis der Pumpe hätte ändern können.
Auch gibt es leider immer wieder falsch konfigurierte Netzwerkdienste mit unverschlüsselter Übertragung von Patientendaten. Da müssen Krankenhäuser besser werden. Patientendaten sind sensible Daten und bedürfen daher verstärkter Sicherheitsmaßnahmen.
Folglich gebührt dem speziellen Internet of Medical Things (IoMT) besondere Aufmerksamkeit. Als verbundenes Netzwerk medizinischer Geräte und Systeme sammelt, ordnet und übermittelt es Daten und bietet dem Gesundheitswesen dabei neben der gebotenen Sicherheit großes Potenzial im Hinblick auf Kosten, Versorgung und Personaleinsatz. Doch bislang fehlen Akzeptanz und Vertrauen – und auch Experten.
Potential des IoMT besser ausschöpfen
Entscheidende Frage ist auch, wie Hersteller vernetzter Medizingeräte das Potential des IoMT besser ausschöpfen können. Im Rahmen einer Studie im gesamten europäischen Raum haben die Wirtschaftsanalysten von Deloitte unlängst 237 Entscheider aus der Medizintechnikbranche befragt. Knapp die Hälfte der Beteiligten hat nur teilweise (39 Prozent) oder noch gar keine (10 Prozent) neuen Geschäftsmodelle implementiert. Dennoch betrug der Gesamtwert des IoMT-Markts in Europa vergangenes Jahr bereits rund 12 Mrd. US-Dollar – 2020 sollen es bereits 44 Mrd. US-Dollar sein. Doch um das Potenzial voll ausschöpfen zu können, müsse die Branche die Initiative ergreifen. Hierbei spielen drei zentrale Herausforderungen eine Rolle:
- Erstens die Suche nach dringend benötigten Talenten, also Datenanalyse-Spezialisten, KI-Entwicklern, Bio-Sciences-Experten und ähnlichen Berufsprofilen. 71 Prozent der Befragten sind der Überzeugung, dass die zurzeit in dieser Hinsicht vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten bei weitem nicht ausreichen. Hier bedarf es daher auch neuer Kooperationsmodelle mit Universitäten, anderen Unternehmen sowie mit Organisationen des Gesundheitswesens.
- Nur wenn die Medizintechnikbranche zweitens ein tieferes und fundiertes Verständnis der Bedürfnisse und Mechanismen bei Ärzten, Patienten und Vertretern der Kassen entwickelt, kann es gelingen, die Potenziale und Vorteile einer umfassenden Vernetzung sowie einer weitgehenden Automatisierung für jede einzelne Zielgruppe deutlich zu machen. Dazu bedarf es nicht einmal zwingend eines radikalen Fortschritts. Auch eine entsprechende Erweiterung der Funktionalitäten bestehender Produkte und Services kann Mehrwert liefern.
- Die dritte Herausforderung betrifft die Kommunikation. Es gilt, die vielfältigen Vorteile eines IoMT-basierten Gesundheitssystems so überzeugend darzustellen, dass sich alle Beteiligten des Gesundheitssystems auf den Wandel einlassen.
„Das Gesundheitswesen ist ein sensibler Bereich aus zahlreichen Mechanismen, Interdependenzen und wachsenden Herausforderungen. Im Zentrum sollte jedoch stets die ökonomisch vertretbare Optimierung der Behandlung und Heilung von Patienten stehen. Bevor die Vorteile des IoMT spürbar zum Tragen kommen können, muss daher zunächst die Infrastruktur verändert und modifiziert sowie eine allgemeine Akzeptanz geschaffen werden. Letzteres hat viel mit Vertrauen zu tun. Erst wenn klar ist, dass alle gleichermaßen profitieren, kann eine solche Aufgabe erfolgversprechend in Angriff genommen werden“, bringt es Michael Dohrmann, Partner Life Science & Healthcare bei Deloitte, auf den Punkt.
Ist Deutschland bereit fürs „Krankenhaus 4.0“
Fazit: Digitalisierung, Internet of (Medical) Things und Big Data sind allgegenwärtig, die digitale Revolution ist längst dabei, unser Leben massiv zu verändern. Dabei schaffen smarte Vernetzungstechnologien nie dagewesene Transparenz und Effizienz, um sinkende Klinik-Budgets optimal zu nutzen. Aber ist Deutschland auch bereit fürs „Krankenhaus 4.0“, dem Äquivalent zu „Industrie 4.0“. Die Zukunftsvision für Produktion und Dienstleistung bezieht sich auf die vier industriellen Revolutionen, welche vereinfacht gesagt Maschinenkraft (Dampfmaschine), Automation (Fließband), Digitalisierung (Computer) und letztlich Vernetzung sind. „Das ,Krankenhaus 4.0’ steht für die Vision einer modernen, auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmten Gesundheitsversorgung, in der verteilte Krankenhausinformationssysteme, Medizingeräte, Anlagen und Anwendungen durch Vernetzung und strukturierten Datenaustausch direkt mit den Anwendern wertschöpfend interagieren“ , definiert dazu das Bundesministerium für Bildung und Forschung auf seiner Homepage.
Im Krankenhaus 4.0 sollen also die verschiedenen IT-Systeme bestmöglich miteinander vernetzt werden und vor allem auch mit der Medizintechnik und weiteren Hardwaresystemen interagieren. Aber allzu häufig trifft High-end-Medizintechnik auf Krankenhaus-IT, die freundlich formuliert erhebliches Optimierungspotenzial offenbart. Das wird am Beispiel von Wearables deutlich. Als Hardware, die eng am Körper getragen wird, können diese unterschiedlichste Vitalwerte wie Puls, Blutdruck, Blutzucker etc. erfassen, speichern und weiterleiten, sodass diese Werte überall auf mobilen Devices verfügbar sind. Doch es krankt am Übergang vom „Krankenhaus 3.0“ zum „Krankenhaus 4.0“. Weniger als zehn Prozent der Krankenhäuser haben heute eine flächendeckende elektronische Patientenakte im Einsatz.
Eine Frage des Geldes, nicht der Technik
Das ist in der Regel eine Frage des Geldes, nicht der Technik. Weniger als die Hälfte dessen, was in anderen Branchen üblich ist, geben Krankenhäuser in Deutschland für ihre IT aus, fand eine im Auftrag der Pro-Klinik Krankenhausberatung in Zusammenarbeit mit der FH Dortmund und anderen erhobene Studie heraus. Im Vergleich zu Banken und Unternehmen aus dem Finanzsektor, die ebenfalls mit hochsensiblen Daten agieren, sei es sogar nur rund ein Viertel. Dort scheint man verstanden zu haben: Die digitale Revolution gibt es nicht zum Nulltarif.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf unserem Partnerportal Devicemed erschienen.
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