Customer Centricity Die 360-Grad-Sicht ist tot
Wenn der Kundenservice die ihm angebotenen Daten nicht oder falsch interpretiert oder sie ignoriert, weil er von ihrer Fülle überfordert ist, schrumpfen die 360-Grad schnell auf einen schmalen Ausschnitt zusammen.
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Die "360-Grad-Sicht" hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. Aus Marketing-Broschüren und -Präsentationen ist der Begriff kaum noch wegzudenken. Er formuliert ein Ideal, nach dem in der Ära der "Customer Centricity" alle Unternehmen streben: Umfassende Kenntnisse zu haben von allem, was den Kunden betrifft – Kenntnisse von seinen Vorlieben und Eigenheiten, von seinem Status und seinem Stand, von seiner Kundenhistorie, seinen Beschwerden, Möglichkeiten und Plänen. Auf die IT gemünzt stand am Anfang die Erkenntnis, dass die Mitarbeiter im Kundenservice mit einer stetig wachsenden Zahl von Anwendungen konfrontiert waren, die alle irgendetwas über die Kunden verraten konnten, die aber doch nie in der Lage waren, ein konsistentes Bild zu zeichnen. Allzu oft bestand dann das Kundengespräch, also die direkte Interaktion mit demjenigen, um den sich doch alles drehen sollte, darin, dass der Mitarbeiter mit den unterschiedlichen Anwendungen zurecht kommen musste. 360-Grad-Sicht bedeutete dann den Fortschritt, alle diese Informationen aus unterschiedlichen Quellen und Systemen endlich übersichtlich auf einem Bildschirm darzustellen. Und damit im Weiteren, anstatt IT-Systeme zu bedienen, endlich Zeit zu gewinnen für das Gespräch mit dem Kunden und für dessen Beratung, was langfristig wiederum für mehr Kundenzufriedenheit und natürlich letztlich auch für zusätzliches Business sorgen sollte.
Mittlerweile, nach etlichen Jahren von "360-Grad at Work", muss man allerdings mit einer gewissen Ernüchterung feststellen, so recht vorangekommen ist man mit diesen anspruchsvollen Plänen nicht. Die Klagen über schlechten Kundenservice reißen nicht ab, und die Kundenzufriedenheit hat sich zumindest nicht so verbessert, wie man hätte erwarten können und wie es vordem ja auch der Anspruch war.
Mehr als reine Informationen
In der Praxis hat sich gezeigt, dass es mit der umfassenden und konsistenten Darstellung der Informationen über den Kunden nicht getan ist. Wenn der Mitarbeiter im Kundenservice die ihm angebotenen Daten nicht interpretieren kann, wenn er sie falsch interpretiert oder wenn er sie schlichtweg ignoriert, weil er von ihrer Fülle überfordert ist, schrumpfen die 360-Grad schnell auf einen schmalen Ausschnitt zusammen, und man muss froh sein, wenn der Kunde überhaupt noch in Sicht ist.
Verschlimmert wird diese Situation dadurch, dass die pure Menge der Daten in den letzten Jahren massiv angewachsen ist – mit der wenig trostreichen Perspektive, dass dieses Wachstum auf absehbare Zeit so weitergehen wird. Man muss ja nicht nur ein oder zwei Kanäle, vielleicht Telefon und Filiale, im Auge behalten, sondern nun auch noch mehrere Social-Media-Kanäle, diverse Call Center, und die Legacy-Systeme produzieren - unter anderem – ja immer noch ständig Kundendaten. Kein Wunder, dass das Thema Big Data gerade im CRM-Umfeld eine zentrale Rolle spielt.
Ermittlung relevanter Daten
Wie aber will man diese Datenmengen in einer 360-Grad-Sicht noch sinnvoll verwenden? Wie soll der Mitarbeiter im Kundenservice die Übersicht behalten? Vielleicht reicht ein Bildschirm nicht mehr, um alles zu sehen, vielleicht benötigt man künftig zwei oder drei? Oder braucht der Kundenservice vor allem größere Monitore?
Das umfassende Bild vom Kunden ist jedoch kein Selbstzweck. Es geht vielmehr darum, aus den Daten Erkenntnisse zu gewinnen und aus den Erkenntnissen wiederum geeignete Aktionen abzuleiten. Entscheidend an den Daten ist also nicht, möglichst viele zusammenzutragen, sondern relevante Daten zu ermitteln. Man sollte also nicht, wie im 360-Grad-Konzept nahegelegt wird, dem Ideal eines vollständigen Datenschatzes hinterherlaufen, sondern sich am Begriff der Relevanz orientieren. Man muss sich fokussieren auf das, was für den Kunden aktuell relevant ist, man muss nicht alles über den Kunden wissen, sondern das, was ihn derzeit bewegt, wo ihn der sprichwörtliche Schuh drückt, was er derzeit plant und was bestimmt nicht. Der Anspruch, alles zu wissen und alle Daten präsent zu haben, verstellt den Blick auf das, worauf es ankommt. Und wieder in Richtung IT gesprochen: Was man benötigt, sind Systeme für eine konkrete Entscheidungsfindung und ‑unterstützung – Stichwort Decisioning –, Systeme, die Next-Best-Action-Konzepte verfolgen und die dem Mitarbeiter vorschlagen können, was sein Kunde jetzt braucht. Next-Best-Action ist hier also wörtlich zu nehmen – nicht All-Possible-Action.
Natürlich ist es nicht ganz einfach, in all dem sich anhäufenden Datenwust an die wirklich relevanten Dinge zu kommen, zumal, was gestern noch relevant war, sich heute als völlig irrelevant erweisen kann. Hier sind dann Lösungen gefragt, die den Datenberg mit Künstlicher Intelligenz (KI) automatisch und möglichst in Echtzeit analysieren können, die selbst lernen können und auf diese Weise in der Lage sind, ihre Entscheidungen zu optimieren. Oder ganz einfach formuliert: man muss keine 360-Grad-Sicht haben, wenn man in die Richtung schaut, in die auch der Kunde blickt.