Kommentar Ist die Automatisierungspyramide aus der Zeit gefallen?

Ein Gastkommentar von Steffen Wulf* |

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Ging es um IT-Systeme in der Produktion, führte lange kein Weg an der Automatisierungspyramide vorbei. Doch seit einiger Zeit wackelt die Pyramide. Warum wir immer häufiger andere Darstellungen von digitaler Vernetzung in der Fertigung sehen.

Lange war die Automatisierungspyramide das Maß aller Dinge, wenn es um die IT-Vernetzung im Produktionsumfeld ging. Stellt die Industrie 4.0 das Prinzip auf den Kopf?
Lange war die Automatisierungspyramide das Maß aller Dinge, wenn es um die IT-Vernetzung im Produktionsumfeld ging. Stellt die Industrie 4.0 das Prinzip auf den Kopf?
(Bild: gemeinfrei / Unsplash)

Die Automatisierungspyramide galt lange Zeit als Referenz und wichtige Orientierung für Industrie 4.0-Vorhaben. Heute tauchen vermehrt andere Darstellungen auf und werden als aktueller Weg propagiert. Welche Gründe gibt es dafür? Warum verschwindet die Automatisierungspyramide mehr und mehr? Ist die Automatisierungspyramide etwa gar aus der Zeit gefallen?

Die Pyramide

Die Automatisierungspyramide beschreibt den Weg von der Maschine oder Anlage zum ERP. Gemeint ist also die Reise der Daten vom Ort des Geschehens, also der Fertigung, zum Waren- und Wirtschaftssystem, wo die Planung erfolgt. So kann man unter anderem die geplante Leistung mit der tatsächlich erbrachten Leistung jederzeit vergleichen. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur transparenten Fabrik.

Zudem können Produkte, Aufträge sowie Programme und unter Umständen auch Material der Maschine zugeordnet und an diese gesendet werden. Die Vorteile, die mit Hilfe des in der Pyramide beschriebenen Weges erreicht werden können, bleiben unbestreitbar und aktuell. Warum trifft das dann nicht auch auf die Pyramide zu?

Die kurzen Antworten:

  • 1. Weil die in der Pyramide genannten Anwendungen und Technologien ihre Alleinstellungsmerkmale verloren haben und damit auch die implizite, in der Pyramide dargestellte Strategie.
  • 2. Weil eine Smart Factory nicht nur aus Maschinen und einem ERP besteht.
    Die einzige Schnittstelle zur Maschine über die Steuerung, wie in der Pyramide dargestellt, gibt es häufig nicht mehr. Denn auch weitere Sensoriken – Stichwort Condition Monitoring – und andere Technologien, wie fahrerlose Transportsysteme, liefern Daten.
  • 3. Weil der Fokus auf ein ERP als alleinigen Endpunkt der Pyramide nicht mehr passt.
    Die Daten werden mit unterschiedlichen Technologien erhoben und in unterschiedlichen Systemen gebraucht. Viele IT-Strategien verabschieden sich von monolithischen Ansätzen und setzen verstärkt auf eine Data Integration Layer.
  • 4. Weil digitale Vernetzung viel mehr als das Fortführen der Automatisierung ist.
    Heute spielen viele neue Aspekte, Technologien und damit verbundene Architekturen eine wichtige Rolle im Gesamtorchester. Die Pyramide ist daher heute nicht mehr in der Lage, ein vollständiges oder grundlegendes Bild zu liefern. Deshalb nutzen wir heute verstärkt andere Darstellungen und Bilder.
    Außerdem stützt das Modell für viele auch immer wieder die missverständliche Wahrnehmung, dass Industrie 4.0 lediglich die Automatisierung, manchmal auch Industrie 3.0 genannt, fortsetzt.
  • 5. Weil es den einen Weg via MES heute oft nicht mehr gibt.
    Heute werden oft verschiedene Technologien für die Datenübertragung parallel genutzt. Diese stellen zusätzliche Daten im MES zur Verfügung und haben weder direkt mit dem ERP noch mit der SPS zu tun. Beispiele hierfür sind LPWAN, UWB, OPC UA, MQTT oder Node-Red.

So gesehen wirkt die Pyramide heute weder vollständig noch aktuell und ist somit – zumindest etwas – aus der Zeit gefallen.
Doch wie sehen die Sinnbilder von heute aus? Welche Überlegungen stecken dahinter? Welche Änderungen ergeben sich dadurch?

Der Dreiecksbau steht Kopf

Zunächst können wir feststellen, dass in Smart Factories die in der Fertigung erhobenen und auch die dort genutzten Daten aus ganz unterschiedlichen Quellen kommen. Natürlich spielen die in der Steuerung vorhandenen (Prozess-)Daten immer noch eine sehr wichtige Rolle. Zusätzlich liefern jedoch mehr und mehr auch andere Technologien wichtige Daten für das Steuern und optimale Betreiben einer digital vernetzten Fertigung.

Diese weiteren Technologien und Elemente haben eins gemeinsam: Sie haben meistens keinen direkten Kontakt zur Steuerung der jeweiligen Anlage, sondern integrieren sich auf anderen Wegen in die Datenlandschaft.

Hier ein paar Beispiele:

Funktechnologien wie UWB oder RFID werden für die Identifikation von Materialstandorten und -bewegungen in Echtzeit genutzt. Zusätzlich versorgen immer häufiger auch fahrerlose Transportsysteme Anlagen und Arbeitsplätze.

Zusätzlich angebrachte Sensoriken, zum Beispiel für Condition Monitoring, Predictive Maintenance, Energieverbrauch, werden oft auch mit Hilfe weiterer Funktechnologien wie LPWAN, Mioty oder ähnlichen Ansätzen vernetzt. Auch hier besteht zunächst kein Kontakt zum ERP oder zur Steuerung.

Das sind nur einige Beispiele für zusätzliche Datenquellen, die einen wichtigen Beitrag für das Orchestrieren und gegebenenfalls auch Automatisieren von Prozessen leisten.

Doch all diese Dinge tauchen in der Pyramide gar nicht auf. Hier ist lediglich der Weg von der direkt mit der Steuerung verbundenen Sensorik und Aktorik zum MES und weiter zum ERP dargestellt. Zusätzliche Quellen, Datenströme oder Anwendungen gibt es in diesem Bild nicht.

Eine erste Anpassung der Pyramide könnte also das Aufsetzen einer weiteren auf den Kopf gestellten Pyramide sein, in der weitere Anwendungen und Datenquellen ihren Platz finden (vgl. Abb. 01).

Abb. 01
Abb. 01
(Bild: Steffen Wulf/iStock)

Doch auch das reicht heute nicht mehr wirklich aus, da die unterschiedlichen Anwendungen auch mit unterschiedlichen Technologien und Schnittstellen kommunizieren. Typische Datentransportagenten oder auch Übersetzer sind beispielsweise OPC UA, MQTT, Node-Red oder REST.
Mit Hilfe dieser vielfach eingesetzten Technologien werden heute Daten verschiedenen Anwendungen recht flüssig zur Verfügung gestellt. Während früher häufig eher wenige Schnittstellen genutzt wurden, gibt es heute viele individuell gestaltete Datenströme für bestimmte Zwecke.

Letztlich müssen die Daten – genau wie Material – zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung stehen und das bei einer vermutlich weiter steigenden Anzahl der genutzten Anwendungen.
Hieraus resultiert letztlich die Überzeugung, dass es in Zukunft besser ist, die Daten konsequent zwischen Anwendungen fließen zu lassen, anstatt sie, wie lange verfolgt, in möglichst wenigen Anwendungen oder nur im ERP zu konzentrieren. Deshalb wechseln immer mehr IT-Strategien weg von einem monolithischen, auf das ERP gebauten Ansatz. Stattdessen orientieren sie sich in Richtung einer soliden Data Integration Layer, die den Datentransport vielfältig ermöglicht. Das ERP wird dadurch allerdings nicht unbedingt weniger wichtig: Einen eindeutigen Platz für Stammdaten muss es weiterhin geben und auch der Ansatz von Single Source of Truth ergibt in diesem Zusammenhang natürlich weiter Sinn.

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Aus der Pyramide oder den aufeinandergesetzten Pyramiden wird so aber wieder etwas anderes: Das Gebilde bekommt einen dicken Bauch, da ganz unterschiedliche Datenströme auf Basis unterschiedlicher Technologien zwischen den Anlagen und anderen Elementen hin und her fließen. So entsteht dann eine Art Säule. Dieses Bild passt aber auch nicht wirklich, da es eine Gradlinigkeit vermittelt, die es in dieser Form eigentlich nicht gibt – genauso wie die Idee des Oben und Unten nicht mehr passt.

Abb. 02
Abb. 02
(Bild: Steffen Wulf/iStock)

So kommen wir dann zu den netzwerkartigen, aktuellen Darstellungen, die die heutige Situation und auch den Blick in die kommenden Jahre bisher am besten darstellen (vgl. Abb. 02). Nutzen Sie deshalb die Idee eines Netzwerks anstatt der Automatisierungspyramide, wenn Sie an Industrie 4.0-Vorhaben denken.
Dieser Ansatz bietet eine deutlich höhere Flexibilität und meist auch eine höhere Geschwindigkeit bei der Umsetzung. Hierfür muss gegebenenfalls allerdings auch Ihre IT die Strategie anpassen und einen konsequenten Datenfluss jenseits althergebrachter Vorstellungen von Schnittstellen ermöglichen und die notwendigen Werkzeuge zur Verfügung stellen.

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* Steffen Wulf verfügt über 15 Jahre Erfahrung als Lean Experte/Inhouse-Consultant in der Industrie und bietet Projektmanagement, Beratung und Training zur Digitalen Transformation an.

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